Filmkritik
Outsider unter sich
Ein Thriller, eine Liebesgeschichte, eine Sozialstudie, ein Film noir – der neue Film von Jacques Audiard ("Un héro très discret") vereint alle diese Genres in sich und wirkt trotzdem nie überladen oder konstruiert.
Carla (Emanuelle Devos) arbeitet als Sekretärin in einem Immobilienbüro. Als graues Mauerblümchen abgestempelt, schleicht sie meist verschüchtert und einsam durchs Büro und durchs Privatleben. Dank ihrer Schwerhörigkeit kann sie Lippenlesen und erfährt so jeweils in den Mittagspausen, wie ihre Kollegen am Nebentisch schamlos über sie herziehen. Ihr Ehrgeiz ist es, diesen eins auszuwischen, und selber einmal ein Projekt erfolgreich zu bearbeiten. Als ihr Chef ihr einen Assistenten zugesteht, stellt sie den leicht heruntergekommenen Paul (Vincent Cassel) ein. Als ehemaliger Sträfling hat er keine Ahnung vom Maschinenschreiben, Faxen oder Kopieren, doch mit Carlas Hilfe schlägt er sich bald tapfer im kleinen Kopierraum. Als sie entdeckt, dass er in der Besenkammer des Büros übernachtet, quartiert sie in kurzerhand in einem der firmeneigenen Objekte ein, das wegen Renovation leer steht. Carla hilft Paul nicht etwa aus reiner selbstloser Menschenliebe, sondern hat auch ganz klare Vorstellungen davon, wie sich der harte Bursche für ihre Unterstützung revanchieren kann: Er soll nämlich ihrem Kollegen Dokumente entwenden, damit sie endlich beruflich brillieren kann.
Was folgt ist ein subtiles Spiel vom Geben und Nehmen zwischen den beiden sozialen Aussenseitern. Paul wird von einem ehemaligen Kumpanen unter Druck gesetzt und muss seine Schuld in dessen Bar abarbeiten. Und obwohl er auf Bewährung ist und eigentlich die Finger von allen illegalen Sachen lassen sollte, plant er, schon bald seinen neuen Boss auszunehmen – mit Hilfe von Carlas Künsten im Lippenlesen. Parallel zu diesem rein beruflichen Interesse aneinander, entwickelt sich sehr subtil und beinahe schon widerwillig eine Liebesbeziehung, die keiner der beiden zulässt, die aber unterschwellig immer vorhanden ist. Carla, die von Liebe und Leidenschaft träumt, aber keinen an sich heranlässt, nimmt Paul einmal an eine Geburtstagsfeier mit und stellt ihn als ihren Verlobten vor. Doch auch das versteht sie nur als Abmachung für den Abend und wehrt seine Annäherungsversuche danach strikt ab. Gleichzeitig lässt sie sich aber auf die verrücktesten Ideen von ihm ein. Die Missverständnisse zwischen den beiden bleiben nicht aus und tragen dazu bei, dass nichts in diesem Film den gewohnten Lauf nimmt.
Zu verdanken hat "Sur mes lèvres" seine Dichte und Spannung vor allem den beiden grandiosen Hauptdarstellern. Emanuelle Devos ("Artemisia") brilliert als zerknitterte, graue Maus mit unbefriedigter Libido, die mit Pauls Gefühlen spielt und dabei beinahe durchdreht, weil sie ja eigentlich unwiderstehlich von ihm angezogen wird. Nach "Les rivières pourpres", in dem Vincent Cassel vor allem seine physischen Fähigkeiten unter Beweis stellen konnte, und "Le pacte des loups", wo er einen ziemlich stereotypen Bösewicht mimen musste, kann er in "Sur mes lèvres" endlich wieder seine unglaublichen Fähigkeiten als Charakterdarsteller unter Beweis stellen. Er ist mit Haut und Haar Paul: Kein tarantinesker Gangster, sondern ein Kleinganove mit fettigen Haaren, der zu unkontrollierter Aggressivität neigt, dem jede Coolness abgeht, und der gegenüber der seltsam zielstrebigen Carla zum linkischen Schuljungen werden kann. Einer aus der Gosse, der in der Pariser Banlieue aufgewachsen ist, aber in seiner Hilflosigkeit irgendwie sympathisch wirkt.
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