Filmkritik
Diesseits der Stille
Alex will sich vergraben und jedes Gefühl gleich mit. In ein ostdeutsches Nest zieht sie, ins Haus ihrer verstorbenen Oma, eine Stelle als Laborantin weit unter ihren eigentlichen Qualifikationen hat sie bereits.
Ein neues Leben will sie anfangen, eines alleine: Ihren Mann hat sie fast totgeprügelt, warum lässt sich ahnen, nach einigen Jahren Knast wird sie immer noch nicht seinen Schatten los. Ihre Tochter will keinen Kontakt mehr zu ihr, auch das ist verständlich. Einen Strich durch ihre Einsamkeit macht ihr der zwölfjährige Tom, wortkarg, kontaktgestört wie sie. Er beobachtet sie und drängt sich still auf, in seiner Not und Unbeholfenheit erkennt sie zwangsläufig Vertrautes. Doch Alex wehrt sich mit aller Kraft, sie will niemanden in ihrem Leben, schon gar nicht einen gestörten Jungen, der Stühle umwirft und zerstört. Dann erfährt sie, dass dieser Junge als Siebenjähriger seine Mutter am Strick hat baumeln sehen. Alex erfährt das nebenbei von Toms Vater Piet, dem betont fröhlichen Fahrlehrer, der in seiner humorvollen Vitalität auf den ersten Blick so frei wirkt und in dem es doch innerlich tobt und wütet, dem sein Sohn entglitten ist und der nicht weiß, wohin mit all seiner Liebe. Piet will Alex. Weil sie anders ist und mit Tom seltsam verbunden scheint. Oder will er einfach jemanden, der sein Leben kittet und sein Bett warmhält? Neue Frau, neues Glück und Schluss? Alex sträubt sich, ist angezogen, verängstigt - ein Eiertanz um Nähe und Vertrauen beginnt.
Im Beziehungsdreieck Alex, Piet, Tom finden die Figuren trotz viel gegenseitiger Zuneigung kaum zueinander, jeder bleibt in sich verloren: Während Alex in ihrer Vergangenheit gefangen ist, scheitert Piet an der Gegenwart. Vieles, auch zwischen Vater und Sohn, gärt lange unter der Oberfläche und bricht sich im Verlauf der Handlung langsam aber unaufhaltsam Bahn. Die in den Biographien festgelegten Rollen "Täterin" Alex und "Opfer" Piet werden von der Regisseurin schnell aufgelöst: Alex ist scheu und zurückgezogen, Piet der Choleriker, der sogar handgreiflich wird. Keine Chance also für den Zuschauer, übliche Denk-Schubladen und bequeme Urteile über Schuld, Buße und Verantwortung zu bedienen - der Blick wird frei für das, was dahinter liegt.
Es ist schwierig, bei "Mondkalb" über die Handlung zu sprechen. Wichtiger sind Gesten, Blicke, stumme Kommunikation - darin viele, oftmals widersprüchliche Gefühle. Es ist vor allem der Subtext, die hinter den gesprochenen Worten eröffnete Bedeutungsebene, die das besondere dieses Films ausmacht. Und es gelingt Sylke Enders, vor allem aber dem Spiel des großartigen Ensembles, diese Ebene nicht durch Sprache zu demontieren und dem Zuschauer die Freiheit zu lassen, die Figuren zu erspüren.
Endlich einmal ein Film, der sein Publikum nicht bevormundet, nicht jedes Schicksal bis ins ermüdende Detail erklärt und doch stringent und spannend zugleich bleibt. Auch handwerklich sieht man hier großes Können: realistische Dialoge, überragende Schauspielführung, sogar die Lichtsetzung reflektiert die inneren Zustände der Figuren. Auch das Gespür für Nebenfiguren ist beachtlich: Alex' jovialer Chef, der Besserwessi in seiner unbeholfenen, unangebrachten Bemühtheit oder der schwule Nachbar Mirko mit einer erstaunlichen Selbstverständlichkeit in seiner Skurrilität, alle diese Figuren bereichern das Gesamtwerk. Im Zentrum aber fesseln vor allem die drei Hauptdarsteller: Juliane Köhler beeindruckt in vielschichtigen Nuancen jenseits des Verbalen, der junge Leonard Carow ist eine echte Entdeckung und auch Axel Prahl vermeidet das Klischee treffsicher und bricht die Wucht seiner Körperlichkeit in genau den richtigen Momenten.
Wo aber kann man einen psychologisch so einfühlsamen Film dramaturgisch schlüssig und gleichzeitig glaubwürdig enden lassen? Auch das meistert Sylke Enders mit beachtlicher Reife: Am Ende steht nicht die Liebe, am Ende steht eine angedeutete Einsicht und ein unaufdringliches Plädoyer für Verantwortung und Menschlichkeit.
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