Quelques heures de printemps Frankreich 2011 – 108min.

Filmkritik

Über die Würde des Abschiednehmens

Michael Lang
Filmkritik: Michael Lang

Ein Lastwagenchauffeur zieht nach einer Gefängnisstrafe zu seiner verwitweten Mutter. Keine ideale Situation, weil das Verhältnis zwischen den beiden zerrüttet ist. Erst als klar wird, dass die Mutter ihren eigenen Tod plant, kommt Bewegung in die eiskalt gewordene Beziehung.

Regisseur Stéphane Brizé gehört zu den herausragenden Filmschaffenden des zeitgenössischen französischen Kinos. Er versteht es, heikle zwischenmenschliche Themen aufzuarbeiten. Wie hier, wo das schwierige Miteinander einer Mutter mit ihrem bereits 50-jährigen Sohn namens Alain im Zentrum steht. Es geht um das Reizpotenzial alltäglicher Dinge, die zunehmend auf die Stimmung drücken: Essensrituale, Ordnungsfragen in Küche, Bad und Schlafzimmer, Besorgungen erledigen, den Boxerhund betreuen. All das wird scharf beobachtet und puzzlesteinartig in die Handlung eingebettet. Spektakuläres Kino ist das nicht, aber fesselndes allemal: Weil sich Einblicke ergeben in die Abgründe des Alltäglichen, die dank der enormen Präsenz der Hauptpersonen eine geradezu beklemmende Intimität erhalten.

Quelques heures de printemps berichtet universell verständlich von familiären Missverständnissen und verdrängten Problemen. Aber auch von der Möglichkeit der Veränderung. Am Beispiel eines älteren Nachbarn etwa, der rührend bemüht ist, den Kontakt zwischen der unheilbar erkrankten Mama und dem Sohn zu verbessern. Oder in den Szenen mit einer lebensprallen Frau (famos: Emmanuelle Seigner), die dem einzelgängerischen Alain zu zeigen versucht, was Zuneigung bewirken könnte.

Brizé ist ein Meister der Schauspielerführung, und er belegt diese Qualität erneut. Dem formidablen Charakterdarsteller Vincent Lindon gelingt es als Alain exzellent, dessen Konflikt zwischen Verstocktheit und emotionalem Aufbruch sichtbar werden zu lassen. Und Hélène Vincent besticht als stolze, eigenständige, vom einfachen Leben geprägte Mutter, die auch am Ende ihres Seins keine Kompromisse machen will. Und dennoch darauf hofft, mit ihrem einzigen Sohn ins Reine zu kommen.

Wie schon Michael Haneke im Film Amour verdeutlicht Brizé, wie man ein breites Publikum auch für unbequeme, schwierige Themen wie Altern, Krankheit und Tod sensibilisieren und abholen kann: Mit erzählerischer Präzision, ohne aufgesetzten Voyeurismus und mit einer würdevoll hinterfragenden Haltung dem Leben gegenüber.

16.01.2013

4

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Kommentare

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gefuehlsmensch

vor 10 Jahren

ein toller Film.


weinberg10

vor 11 Jahren

Ein ausgezeichneter Film über heikle Themen. Alt werden, Sprachlosigkeit, die von den Schauspielern sehr gut rübergebracht wird und das freiwillige Sterben in der Schweiz. Für mich eine berührende Geschichte.


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