Le Passé - Das Vergangene Frankreich, Italien 2013 – 128min.

Filmkritik

Ausgleichende Gerechtigkeit

Filmkritik: Andrea Wildt

Der Iraner Asghar Farhadi bleibt seinem Filmsujet treu und beobachtet Menschen in Krisenmomenten. Diesmal in Paris zeigt er, dass es für einen brisanten Film keinen politischen Kontext braucht.

Bereits die ersten Minuten eröffnen Welten: Eine Frau erwartet am Flughafen ihren Ehemann, der nach Jahren der Trennung aus Teheran anreist, um die Scheidungspapiere zu unterschreiben. Auf der Fahrt in die Stadt offenbart sich zwischen den beiden eine intime Vertrautheit alter Bekannter, die eine vielschichtige Vergangenheit miteinander teilen. Als durch Zufall die Papiere eines anderen Mannes im Auto auftauchen, scheint das Dreiecksdrama eingeführt.

Oft glaubt man in Le Passé, die Figuren erfasst zu haben. Für eine Szene scheint die Situation klar, doch mit der darauf folgenden wird alles wieder in Frage gestellt. Vorsichtig, aber mit Nachdruck entflechtet der Film die emotionellen Bindungen zwischen seinen Figuren, enthüllt allmählich ihre offenen Wunden. Dabei geht Asghar Farhadi ergreifend präzise vor: Jedes Wort, jede Geste, selbst das Dekor geben in jedem Moment eine eindringliche Momentaufnahme der Figuren. Szene für Szene enthüllen sie die Komplexitäten ihrer Leben: verzweigt, verletzlich, selten vorhersehbar.

Aber Le Passé kommt nicht schwer und deutungslastig daher. Ganz im Gegenteil, die sorgfältige Inszenierung verleiht dem Film Leichtigkeit und Charme. Sie bleibt Hintergrund, unterstützt das Ungesagte zu artikulieren und die drängenden Fragen und dominanten Gesprächen fordern Feinsinn und die Aufmerksamkeit des Zuschauers. Das Ergebnis getragen von hervorragenden Schauspielern sind zwei spannungsvolle Stunden modernes Familiendrama voller tiefgehender Emotions-Minen.

Seine Brisanz zieht "Le Passé" aus seiner dramaturgischen Aufstellung. Anstatt aus dem Plot eine Geschichte einer Frau zwischen zwei Männern zu stricken, integrieren seine Macher weitere Hauptfiguren: Die noch Verheirateten Marie (Bérénice Bejo) und Ahmad (Ali Mosaffa) haben zusammen zwei Kinder aufgezogen. Nun teilt Marie das Haus in einem Vorort von Paris mit Samir (Tahar Rahim) und seinem Sohn. Samirs Frau liegt seit einem Selbstmordversuch im Koma. Mithilfe der Kinder und der zwischen Tod und Leben schwankenden Ehefrau Samirs bricht das Sujet aus dem Beziehungsmuster Dreieck aus und verlagert die Verantwortung im Leben auf diverse Ebenen.

Wie bereits in A Separation setzt Farhadi gekonnt banale moralische Konflikte ein, um grössere zu verhandeln. In Le Passée beweist er, dass es dazu keine politisch angespannte Situation als Subtext braucht. Der Mensch allein reicht aus.

11.05.2021

5

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Kommentare

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Barbarum

vor 7 Jahren

Farhadis Film fühlt sich mitunter etwas zäh an, aber niemals falsch.


8martin

vor 10 Jahren

Die Vergangenheit lebt und zieht ihre Kreise bis in die Gegenwart. Das verdeutlicht Regisseur Asghar Farhadi in seinem Dialog-Film. Marie (Bérénice Bejo) steht zwischen ihrem Ex Ahmad (Ali Mossafa), dessen Nachfolger Samir (Tahar Rahim) und drei Kindern.
Scheibchenweise fließen wichtige Informationen ein, die das Zusammentreffen problematisieren und immer explosiver werden lassen: Samirs Frau liegt nach Suizid im Koma, mehrere Personen hätten ein Motiv, sie dazu getrieben zu haben, die Kinder lehnen Samir ab, sind bockig oder wollen am liebsten abhauen. Es geht hoch her im Haus von Marie. Ganz nebenbei wird sie auch noch von Ahmad offiziell geschieden.
Aber manches wird doppelt erzählt und bei der Suche nach einem Schuldigen kann man schon mal den Überblick verlieren. Vielleicht hat der häufige Wechsel dieses Aspektes ja Methode. Trotz des relativ freundlichen Umgangs aller miteinander – außer Marie – werden oder wurden doch alle irgendwie schuldig, müssen versuchen über ihren Schatten zu springen – auch die Kinder. Und wie ein levantinischer Geschichtenerzähler unterhält uns Farhadi mit einer durchaus aktuellen Konstellation. Die Dialoge sind geistreich und werden von den Darstellern überzeugend rübergebracht. Das zentrale Dreieck lebt von der Explosivität Maries, der bedächtigen Ruhe von Ahmad und des trotz seiner schwierigen Position sympathischen Samir, der eigentlich zwischen allen Stühlen sitzt. Vielleicht deshalb gehört ihm die letzte Geste am Bett seiner Frau…
Das ist intelligentes Kino, anstrengend und herausfordernd, aber auch ‘Food For Thought‘.Mehr anzeigen


gefuehlsmensch

vor 10 Jahren

traumhaft schön ist Bérénice Bejo.
Der Film ist sehenswert.


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