Persischstunden Weissrussland, Deutschland, Russische Föderation 2020 – 128min.

Filmkritik

Eine riskante Lüge und ein bisschen Menschlichkeit

Irene Genhart
Filmkritik: Irene Genhart

In Vadim Perelsmans Film nach einer Erzählung von Wolfgang Kohlhaase gibt sich der Sohn eines Rabbiners als Perser aus und entwickelt ein deutscher Hauptsturmführer unverhofft menschliche Seiten.

Auf der Flucht in die Schweiz wird der Belgier Gilles 1942 in Frankreich zusammen mit anderen Flüchtlingen von der SS aufgegriffen. Um mit der Judenfuhre kurzen Prozess zu machen, fährt man diese zur Erschiessung direkt in einen Wald. Er sei Perser, ruft Gilles in seiner Not und zeigt den Soldaten als Beweis ein Buch über persische Mythen, das ihm kurz davor ein Schicksalsgenosse im Tausch gegen ein Stück Brot zugesteckt hat. Das rettet Gilles das Leben. Denn der Zufall will es, dass der im nahen Lager für die Küche zuständige Hauptsturmführer Koch nach dem Krieg in Teheran ein Restaurant eröffnen will und bis dahin Farsi lernen möchte.

Vier Wörter pro Tag ergäben bis zum Kriegsende geschätzt 2000, meint Koch, und steckt den Vermittlern ein paar Dosen Fleisch zu. Tatsächlich aber kann Gilles kaum zwei Worte Farsi und kommt nicht umhin, die Sprache neu zu erfinden. Als Eselsleiter benutzt er die Liste der Lagerinsassen, aus deren Namen er fortlaufend neue Worte kreiert. Es ist ein riskantes Spiel und bloss eine Frage der Zeit, bis sich unter den Lagerneuzugängen ein echter Perser befindet. Und dann ist da auch noch Rottenführer Beyer, der überzeugt ist, dass Gilles lügt.

Wenige Seiten bloss umfasst Wolfgang Kohlhaases 2005 erschienene Erzählung „Erfindung einer Sprache“, die nach Angaben des Autors auf wahren Begebenheiten beruht. Die darauf aufbauende Drehbuchidee, zwei sich feindlich gegenüberstehende Menschen mittels gemeinsamer Geheimsprache schicksalshaft aneinander zu binden, ist genial und macht Persischstunden zum packenden Beziehungsdrama.

Er habe, sagte Vadilm Perelsman anlässlich der Uraufführung auf der 70. Berlinale, keinen Film über den Holocaust, sondern über menschliche Kommunikation und Interaktion drehen wollen. Er kommt dabei zwar nicht umhin, das Treiben im Lager zu zeigen, was ihm durchaus realistisch, leider aber nicht ohne gewisse Klischees zu bedienen gelingt. Doch das tut der Dringlichkeit dieses Films, dessen Aussage lautet, dass Täter und Opfer immer Menschen sind und es darum geht, sich ihrer zu erinnern, keinen Abbruch. Dass dies gelingt, ist auch das Verdienst der Hauptdarsteller Nahuel Pérez Biscayart (120 battements par minute) und Lars Eidinger (Babylon Berlin), die sich hier in fiebriger Dringlichkeit beziehungsweise glühendem Schwelen zwischen Machtlust und moralischem Dilemma gegenseitig zur Höchstleistung antreiben.



30.09.2020

4

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Kommentare

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stochi

vor 2 Jahren

Hervorragend. Die 2 Hauptdarsteller in Hochform


Patrick

vor 4 Jahren

Beklemmendes Drama bei dem der Dialog austausch zwischen Lars Eidinger&Nahuel Pérez Biscayart einfach grandios ist.Auch die Kostüme sowie die Ausstattung und der Farbton des Filmes machen das ganze noch ergreifender.Ich Denke Persisch Stunde könnte beim Rennen um den Fremdsprachigen Film bei den Oscars 2021 mit machen.Mehr anzeigen

Zuletzt geändert vor 4 Jahren


thomasmarkus

vor 4 Jahren

Auch wenn es ein Beziehungsdrama vor dem Hintergrund der Schoah ist, so zeigt der Film diesbezüglich doch eindrücklich Abgründiges. Die "Banalität des Bösen" vor allem mal auch bei subalternen Mitläufern. Der Hass des kleinen Mannes, vor allem auch der kleinen Frau. Und Schindlers Liste mal mit den Durchgestrichenen.Mehr anzeigen


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