La Mif Schweiz 2021 – 110min.
Filmkritik
Familienbande
Sie wollen gesehen, geliebt und einfach ernst genommen werden. Die jungen Frauen in einem westschweizerischen Jugendheim kämpfen dafür, ein selbstbestimmtes Leben führen zu können. Manchmal möchten sie aber auch einfach unbeschwert herumalbern, wie es sich für ihr Alter auch gehört. Regisseur Fred Baillif mischt Dokumentation und Fiktion und hat ein authentisches Porträt seiner Protagonistinnen geschaffen, das nicht unberührt lässt.
Im Zentrum der Handlung steht ein Jugendheim irgendwo in der französischen Schweiz. Eines Nachts erwischt eine Betreuerin ein Mädchen und einen Jungen beim Geschlechtsverkehr. Die Vorschrift besagt, dass der Vorgang bei der staatlichen Behörde, der das Heim unterstellt ist, gemeldet werden muss. Um sich der Diskussion zu entziehen, ob Jugendliche ein Anrecht darauf haben, ihre Sexualität auszuleben, und die öffentliche Meinung in Bezug auf die bereits als problematisch und verwahrlost angesehenen jungen Menschen möglichst nicht weiter anzuheizen, wird die Einrichtung nur noch für Mädchen weitergeführt. Es wird sich herausstellen, dass dieser Vorfall symptomatisch für die institutionellen Schwierigkeiten und Spannungen ist, die im Bereich der Jugendarbeit bestehen.
Auch nur unter Mädchen mangelt es im übrigen nicht an Konfliktpotential und regem Treiben. Die Gründe, weswegen die Mädchen hier zusammenkommen, sind vielseitig. Die meisten stammen aus einem zerrütteten Familienumfeld, alle haben ein Trauma, das sie zu überwinden versuchen. Das Heim und die anderen Mädchen werden zur Ersatzfamilie, die Erzieher und insbesondere die Leiterin Lola (Claudia Grob) zu ihren Vertrauten. Doch verlangt die Situation gerade von letzteren einen fast unmenschlichen Spagat zwischen Nähe und notwendiger beruflicher Distanz. Dass der westschweizerische Regisseur Fred Baillif, der in seinen Filmen gerne mit Laien zusammenarbeitet und sich immer mit gesellschaftsrelevanten Themen auseinandersetzt, selbst einst Sozialarbeiter war, zeigt sich in der Souveränität und dem genauen Blick, die er in «La Mif» beweist, ebenso wie im respektvollen Umgang mit seinen Protagonistinnen.
Die Kamera wird zum weiteren Akteur im Geschehen, immer sehr nahe bei den Figuren, aber nie invasiv und ihnen den Raum lassend, sich ungehemmt und spontan zu bewegen. Tatsächlich gab es kein festes Drehbuch, nach dem die Mädchen, die übrigens fast alle tatsächlich in einem Jugendheim leben, spielen. Sie haben sich eigene Rollen und Lebensgeschichten ausgedacht, inspiriert von eigenen Erfahrungen, und diese dann weitgehend durch Improvisation verkörpert. Es ist eindrücklich, wie daraus ein so dichtes und spannendes Porträt dieser starken und resoluten jungen Frauen geworden ist.
Die grösste Stärke des Films – in dem auf intelligente Weise die Grenzen zwischen Fiktion und Dokumentation verschwimmen – liegt nicht darin, etwa Opfer in Szene zu setzen, die nach Mitleid trachten. So leicht macht es sich Baillif und dem Zuschauer nicht. Vielmehr fordert er dazu auf, sich mit den gesellschaftlichen Realitäten auseinanderzusetzen, die solche Schicksale erst hervorrufen. Trotz der Ernsthaftigkeit des Stoffes bietet der Film viele humorvolle Szenen, in denen die kindlich-fröhliche Natur der Mädchen zumindest zeitweise ihren Ausdruck findet.
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