Un petit frère Frankreich 2022 – 114min.

Filmkritik

Eine Ode an die unsichtbaren Helden

Filmkritik: Laurine Chiarini

Der Film «Un petit frère», der im vergangenen Jahr in Cannes lief, schildert über drei Jahrzehnte hinweg die Geschichte von Rose und ihrer Familie, die in den 80er-Jahren von der Elfenbeinküste nach Frankreich kamen. Die Erzählung, die gerne auch Umwege nimmt, schweift elegant zwischen den unsichtbaren Helden unseres Alltags.

Wir sind alle von Helden umgeben: Unsichtbar, still und heimlich schuften sie für sich und vor allem für andere, ohne dabei ihre eigene Persönlichkeit zu verlieren. Das gelingt Rose: Sie ist Mutter, aber keine Matriarchin, sondern eine Frau, die einfach versucht, das Beste aus ihrer Situation zu machen. Sie war Lehrerin an der Elfenbeinküste und muss nun in Paris putzen gehen, während sie sich allein um ihre beiden Söhne kümmert. Sie ist die tragende Säule der Familie, um die sich auch das familiäre Dreiergespann windet, deren Geschichte über drei Jahrzehnte hinweg erzählt wird – von Hoffnungen, an die sie sich klammern, bis zu Rückschlägen, denen sie begegnen.

Léonor Serraille ist eine kluge Erzählerin und baut ihre Geschichte mit klaren Strukturen auf. In Gesprächen, die außerhalb des Bildrandes beginnen, zwischen den Wäldern der Sozialwohnungen, die dem Grün einer Wiese oder der Offenheit eines Strandes am Horizont weichen, treffen klassische Musik und afrikanische Rhythmen auf die Worte von Rimbaud und Pascal. Die Mutter scheint unveränderlich zu sein; doch alles um sie herum verändert sich und macht Platz. Für Jean, den Ältesten, und dann für Ernest, den Jüngsten. Die Leistung von Annabelle Lengronne, die Rose über drei Jahrzehnte hinweg darstellt, ist bemerkenswert.

Der Film ist nicht feministisch im engeren Sinne: Er ist eine Ode an die Freiheit und feiert die Helden im Schatten, die wie Rose das Recht haben sollten, ihrem freien Willen zu folgen. Die Regisseurin liess sich von etwas Wahrem inspirieren: Es gibt Hunderte von Roses, die die Strassen der französischen Hauptstadt bevölkern, sich tagtäglich abrackern und dabei die Messlatte für den Erfolg hoch legen. Die Erzählung ist eine Art Hommage an sie. Ernest ist Lehrer geworden und hat es geschafft: oder doch nicht? An der Ecke einer Treppe sieht sich der junge Philosoph heftig mit Racial Profiling konfrontiert. Perfekt integriert, aber für immer anders.

Übersetzung aus dem Französischen durch Maria Engler

22.06.2023

4.5

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