Artikel9. Juni 2023 Maria Engler
Filmwissen: Zurückspulen, bitte! Die 1000 Gesichter der Videokassette
Schwarz, viereckig, klobig – und doch die Heimat unendlicher Universen der Unterhaltung. Die Videokassette begleitete jahrzehntelang die Fans des bewegten Bildes. Anlässlich des Tages des Videorecorders am siebten Juni tauchen wir ein in die wilde Geschichte der VHS. Ausserdem präsentieren wir die 1000 Gesichter der Videokassette und beleuchten ihre vielseitige Rolle im Film.
Freiheitskämpfer Videokassette
Die Erfolgsgeschichte des Videorecorders und damit auch der Videokassette begann mit dem Fernsehen. Lange Zeit ratterte das Fernsehprogramm fröhlich vor sich hin, Sender gab es wenige und abends war irgendwann Schluss. Den Lieblingsfilm immer wieder sehen? Den eigenen Auftritt bei einer TV-Show für die Nachwelt aufheben, um ihn später den gelangweilten Enkeln zu zeigen? Nicht vor dem Fernseher sitzen und trotzdem die neueste Episode der Lieblingsserie nicht verpassen? Fehlanzeige!
Erlösung in Form von Selbstbestimmung über das eigene Fernsehprogramm und die kindliche Befriedigung des Verlangens immer wieder exakt dasselbe zu sehen, brachte der Videorecorder. Anfang der 1960er-Jahre, als die ersten Geräte für den Heimgebrauch auf den Markt kamen, konnten sich das aber nur John Lennon oder Paul McCartney leisten. Über 20 Jahre und einen Konflikt später, der als «Formatkrieg» in die Geschichtsbücher einging, setzte sich das VHS-Format gegen seinen grössten Konkurrenten, das Betamax System, durch.
Heimvideos und B-Movies
Von Anfang der 1980er-Jahre bis ins neue Jahrtausend war die Videokassette Alleinherrscher auf dem Heimkino-Markt. Der Videorecorder ermöglichte aber nicht nur das Aufzeichnen von TV-Programm und das Abspielen von gekauften Kassetten grosser Blockbuster, sondern revolutionierte auch das Homevideo – kompaktere Videokameras ermöglichten es einer breiten Masse, auch ohne Film-Diplom, Opas Geburtstagsfeier in ihrer gesamten, bierseligen Schönheit in Bewegtbild festzuhalten.
Auch für die Welt des Films änderte die Videokassette alles. Das Gatekeeping des Kinos war zu Ende – ebenso wie die Schönheit des Breitbildes. «Pan & Scan» stutzte den breitformatigen Kinobildern gehörig die Flügel – ein schmerzhafter Wechsel zwischen Kinosaal und TV-Bildschirm. Das immer günstigere Film-Equipment ermöglichte ausserdem die Produktion zahlreicher B-Movies direkt für die Videokassette. Warum den Umweg über das Kino nehmen, wenn das grosse Geld in den Videotheken zu holen ist? Den Aufschrei der konservativen Eltern gab es gratis dazu.
Der Siegeszug des Videorecorders kehrte die gesamte Welt des Films von innen nach aussen und endete um das Jahr 2000 herum mit der Einführung der DVD. 2016 wurde die Produktion von Videorecordern endgültig eingestellt. Doch welche Rolle spielen Videos in der Welt des Films? Welche erzählerischen Zwecke erfüllen sie und welche Klischees haben sich rund um das Video entwickelt? Wir enthüllen die 1000 Gesichter der Videokassette!
Filmleidenschaft und geballtes Filmwissen in der Videothek
Die Hauptrolle für die Videokassette. Hier darf sie im Mittelpunkt des Geschehens stehen und bildet den Dreh- und Angelpunkt der Handlung, endloser Diskussionen über den besten Film und die Filmleidenschaft im Allgemeinen. Das Paradebeispiel bildet «Abgedreht» mit Mos Def und Jack Black, die versehentlich alle Videos in ihrer Videothek löschen und im Anschluss in liebevoller Handarbeit die gelöschten Filme nachproduzieren – mit Erfolg! Der Film ist eine wunderschöne Liebeserklärung an die Videokassette und das Filmemachen im Allgemeinen.
Der fantastische «Clerks - Die Ladenhüter» ist eine launige Hommage an das Leben hinter dem Tresen und versprüht den Charme der Jugend. Schaut man sich Filme über die Videothek heute an, schwingt eine ordentliche Portion Nostalgie mit. Die Dokumentation «The Last Blockbuster» gibt sich vollends nostalgischen Gefühlen hin und handelt von der letzten Filiale der einstmals grössten Videotheken-Kette Amerikas.
Video-Botschaften
Communication is key – findet auch die Videokassette. In vielen Filmen bildet eine aufgezeichnete Botschaft ein wichtiges Element der Erzählung. In «50 erste Dates» (Netflix) dient ein Video dazu, der an Gedächtnisschwund leidenden Lucy (Drew Barrymore) ihre eigene Geschichte zu erzählen. Eine weniger romantische Botschaft hält das Videotape bereit, dass in «Jarhead» (Apple TV) einen Soldaten erreicht. Anstatt des erhofften Lieblingsfilms findet sich auf der Kassette eine gepfefferte Demütigung, die vor versammelter Mannschaft präsentiert wird.
Zeig mir, was du schaust und ich sage dir, wer du bist
Welche Filme Menschen anschauen, sagen eine Menge über den Charakter aus, weshalb die Videokassette im Film häufig als Mittel der Charakterisierung auftritt. In «Kevin - Allein zu Haus» (Disney+) wird nicht nur die diebische Freude eines Kindes gezeigt, das ohne Aufsicht brutale B-Movies schauen kann, sondern das Video wird auch virtuos als Mittel der Abschreckung gegen die Banditen eingesetzt.
Vor allem im Horrorgenre dienen Videos oft dazu, den kranken Charakter des Serienkillers zu unterstreichen. Dabei geht das Anschauen brutaler Videos oft Hand in Hand mit dem voyeuristischen Erstellen eigener Filme wie z.B. in Michael Hanekes «Benny’s Video», in dem ein junger Mann brutale Szenen anschaut und diese schliesslich nachstellen will – natürlich ebenfalls vor laufender Kamera.
Der Videobeweis
Eine Videokassette einzulegen, kann komplette Welten zum Einsturz bringen. In «The Sixth Sense» (Disney+) erfährt ein traumatisierter Vater durch ein selbstgedrehtes Video, wer den Tod seiner Tochter zu verantworten hat. Im Gerichtsdrama «Zwielicht» (Netflix) enthüllt ein Video das Motiv am Mord eines Bischhofes – ein gewichtiges Beweisstück.
Belastendes Videomaterial als Druckmittel
Ein echter Klassiker unter den Auftritten der Videokassette: als Druckmittel. In «Lost Highway» wird das Videotape zu einem unzuverlässigen Beweisstück, das Taten zeigt, an die sich die Betreffenden nicht erinnern können, Szenen, die so nie passiert zu sein scheinen. Auch Erpressung steht in diesem verwirrenden Film, in dem sich Realität und die Fiktion der Videokassetten zu vermischen scheinen, auf dem Plan.
Das Tor zur Hölle
Besonders im Horrorfilm ist die Videokassette ein gern gesehener Gast. In der Serie «Archive 81» (Netflix) entblättert die Restaurierung von alten Videotapes eine unheilvolle Geschichte. Vor allem Aufnahmen aus Überwachungskameras wie in «Paranormal Activity» (Netflix) oder “selbst gefilmte” Aufnahmen unheimlicher Ereignisse wie in «The Blair Witch Project» (Apple TV) bieten jede Menge Potenzial für Grusel.
Die engste Verbindung zwischen Videokassette und Horror wird jedoch in «The Ring» (Apple TV) geknüpft. Der Fluch des unheimlichen Mädchens, das ihre Opfer zu Tode ängstigt, wird durch das Anschauen einer Videokassette übertragen. Das Monster selbst kriecht ausserdem aus dem Fernseher heraus, um sein horrormässiges Werk zu Ende zu bringen – die personifizierte Angst vor dem Medium!
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