Kritik5. September 2023

Venedig 2023: «Poor Things»: Wenn Frankensteins Monster eine Frau wäre

Venedig 2023: «Poor Things»: Wenn Frankensteins Monster eine Frau wäre
© Disney Schweiz

Yorgos Lanthimos kehrt nach «The Favourite», mit dem er bei seinem Auftritt bei den Filmfestspielen von Venedig 2019 grossen Erfolg hatte, zum Festival zurück – mit Emma Stone in der gewagten Rolle eines weiblichen Frankenstein-Monsters.

Venedig 2023: «Poor Things»: Wenn Frankensteins Monster eine Frau wäre

Yorgos Lanthimos | 141 min.

Ein Text von Damien Bordard

Während eines wissenschaftlichen Experiments gelingt es Dr. Goldwin Baxter (Willem Dafoe), eine junge Frau namens Bella (Emma Stone) wiederzubeleben. Obwohl sie kaum höhere kognitive Fähigkeiten als ein Kind hat, lernt Bella die Welt um sich herum mit beeindruckender Geschwindigkeit kennen. Ihr Wissensdurst treibt sie dazu, an der Seite von Duncan Wedderburn (Mark Ruffalo), einem unbedarften Anwalt, auf eine Reise zu gehen.

Der griechische Regisseur landet wieder einmal einen grossen Wurf! Mit dem Mythos von Frankensteins Monster als Ausgangspunkt, geht Yorgos Lanthimos über die Vorlage hinaus und liefert ein ebenso extravagantes wie spannendes Werk über den weiblichen Körper und seine Kontrolle durch das Patriarchat. Aus dem Mund der unschuldigen Kindfrau wirken jede noch so kleine Frage oder harmlose Handlung wie ein furchterregender Faustschlag gegen die patriarchalische Gesellschaft und stellen die Art und Weise, wie diese Frauen kontrolliert, in Frage.

Auf einer abenteuerlichen Reise entdeckt Bella ihren Körper und experimentiert mit ihrer Sexualität ohne Scham und Tabus, weit entfernt von den üblichen Darstellungen des weiblichen Begehrens im Kino. Emma Stone spielt sensationell und trägt den Film mit einer faszinierenden Verspieltheit, die sich an der Grenze zwischen Slapstick und Oscar-verdächtiger Performance bewegt. Ihr aussergewöhnliches Engagement wurde übrigens vom Regisseur bei der Vorstellung von «Poor Things» auf dem Festival gelobt.

Lanthimos setzt seinerseits seine fantasievollen visuellen Experimente fort: exorbitante Weitwinkelaufnahmen, unerwartete Fischaugen - hier findet sich die gesamte Palette des Regisseurs wieder. Obwohl diese ungewöhnliche Inszenierung perfekt zum schrägen Ton von «Poor Things» passt, ist die Verwendung dieser Verfahren nicht immer leicht nachzuvollziehen, obwohl man sich gerne in diesen Strudel aus aberwitzigen Bildern hineinziehen lässt. Darüber hinaus erhält diese tolle Welt ihre ganz besondere Würze durch die opulente künstlerische Gestaltung, die nahe am Kitsch liegt und dennoch stimmig ist, da das Ganze trotz des Übermasses vollkommen kohärent erscheint.

Im letzten Drittel könnte man bemängeln, dass der Film etwas redundant wird, aber die Relevanz des Themas und der exquisite Humor – besonders zu erwähnen ist Mark Ruffalo – lassen diese Mängel leicht vergessen. Alles in allem gelingt «Poor Things» das, woran «Barbie» (2023) scheiterte: Der Film passt perfekt in den Zeitgeist und leistet sich den Luxus, einen tiefgründigen und engagierten Diskurs zu führen. Zweifellos schon jetzt einer der grossen Filme des 80. Filmfestivals von Venedig!

4,5 von 5 ★

«Poor Things» erscheint am 08.02.2024 in den Schweizer Kinos.

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