Fucking Åmål - Raus aus Åmål Dänemark, Schweden 1998 – 94min.

Filmkritik

Erwachsen werden am Arsch der Welt

Filmkritik: Sandra Walser

Hollywood geht am liebsten Kompromisse ein, wenn es um Homosexualität geht. Es zeigt nicht viel und das wenige stereotyp oder in hübsche Komödien verpackt. Wirklich akkurat nehmen sich das Thema die Unabhängigen vor. Das neuste Beispiel kommt aus Schweden: Teenager, weiblich und lesbisch sein und all das in der verdammten Kleinstadt Åmål, das mag schon einen Fluch rechtfertigen.

Tumult im Kinderzimmer. Zwei Mädchen wälzen sich am Boden, zerren einander an den Haaren. Feixende Grimassen, Geschrei. Auslöser für den Zank zwischen Elin (Alexandra Dahlström) und Jessica (Erica Carlson) ist nicht etwa das Herumschnüffeln im Revier der anderen, sondern - Schokoladenmilch. Genüsslich hat Elin den ganzen Vorrat an Kakaopulver verputzt, ohne ihrer stämmigen Schwester etwas davon übrig zu lassen. Der angezettelte Streit zahlt sich jedoch für keine der beiden aus, die Mutter verordnet Hausarrest. Nichtsdestotrotz machen sich Elin und Jessica, notgedrungen nun wieder verbündet, mit Lidschatten und Minirock auf leiser Plateausohle davon. Die als Lesbe verschriene Aussenseiterin Agnes (Rebecca Liljeberg) dient den Schwestern als zusätzlicher Kick: Schamlos schleichen sie sich bei 16jährigen ein, um sich an der elterlichen Minibar zu vergnügen und die scheue Mitschülerin anschliessend spasseshalber in Versuchung zu führen. Was die beiden nicht wissen: Agnes steht tatsächlich auf Frauen und ist unsterblich in Elin verliebt.

Von dieser Konstellation ausgehend, zeichnet Lucas Moodysson ein starkes Generationenportrait, welches entgegen der gängigen interpretativen und oft wertenden Art ganz in der Perspektive der Jugendlichen bleibt. Damit gelang dem jungen Schweden ein sensationelles Stück Anti-Hollywood Kino. Denn mit Adolenszenz und Homosexualität, denen er sich mit einer erfrischenden Leichtigkeit annimmt, tut sich die Traumfabrik noch immer schwer. Der Klumpfuss ist Hollywoods eigene Geschichte.

Langjährige Berührungsangst

Spätestens seit dem Dokumentarfilm "The Celluloid Closet", der 1995 das inoffizielle schwul-lesbische Hollywood zum Thema machte, ist klar: Trotz strenger Kontrollen seitens der Zensur und Tabuisierung des Themas sind homoerotische Szenen oder Untertöne schon seit den Anfängen des Films auf der Leinwand präsent. In über 100 Jahren Kino wurde Homosexualität auf der Leinwand allerdings nur selten offen gezeigt. Und wenn, dann wirkte es lächerlich, erregte Mitleid oder Furcht. Mit seinen Filmen lehrte Hollywood das Publikum, was es von Schwulen und Lesben - und diese von sich selbst - zu halten hatten.Noch in diesem Jahrzehnt zeigte die Traumfabrik Homosexuelle meist stereotyp als Transvesiten, Sexualverbrecher, Tunten, Pädophile und Aidskranke. Hier sei an "Philadelphia" (1993) erinnert, in dem Tom Hanks einen schwulen, an Aids erkrankten Anwalt spielt. Er gewann den Oscar, und Hollywood feierte "den bis anhin wichtigsten Moment der schwul-lesbischen Filmgeschichte". Dass Homosexualität in "Philadelphia" gekonnt in den Hintergrund gedrängt wurde, blieb allerdings unerwähnt. Eine Szene, in der der Anwalt und sein Freund (Antonio Banderas) nackt nebeneinander im Bett liegen, kam nie in die Kinos. Schliesslich zählt am Schluss einzig, dass der schwule Filmheld sterben muss.

Wichtiger Richtungswechsel

Seit Hollywood aber gemerkt hat, dass mit homosexuellen Filmfiguren Kasse zu machen ist, wird es mutiger. Und konnte eine solche Rolle unlängst der Karriere noch ein jähes Ende bereiten, ist sie heute - selten progressiv, meistens immer noch in abgeschwächter Form stereotyp - Eintrittskarte in den Club der ganz Grossen. Rupert Everett etwa spielte in "My Best Friend's Wedding" Julia Roberts an die Wand und wurde bei den "Golden Globes" als bester Nebendarsteller nominiert. Für die Hauptkategorien waren Joey Lauren Adams ("Chasing Amy"), Kevin Kline ("In & Out") und Stephen Frears ("Wilde") Anwärter der wichtigen Auszeichnung. Greg Kinnear, der in "As Good As It Gets" Jack Nicholsons schwulen Nachbarn verkörpert, wurde zusätzlich auch für den Oscar nominiert; gleich erging es Kathy Bates für ihre Rolle in "Primary Colors". Dass Ellen DeGeneres als beste TV-Darstellerin ("Ellen") nominiert wurde, versteht sich beinahe von selbst. Sie outete sich gleichzeitig mit ihrer Filmfigur Ellen Morgan, die als erste lesbische Titelheldin einer Sitcom Fernsehgeschichte schrieb.

Starke Bildsprache, pointiertes Drehbuch

Auch "Fucking Åmål" geht dieses Jahr als offizielle schwedische Nominierung für den besten ausländischen Film ins "Oscar"-Rennen. Verdientermassen, denn wie Moodysson seine Charaktere aufeinander zutreiben lässt, zeugt von unglaublichem Feingefühl für das Wechselspiel von Komik, offener und versteckter Dramatik. Gezielt wird Letztere, im Auftakt unscheinbar mit dem Filmtitel angekündigt, nur häppchenweise ausgespielt, bis sie ihre klare und treibende Form einnimmt: Verfluchtes Åmål! Ursache allen Übels. Ein scheinbar hermetisch abgeriegelter Kosmos, aus dem es kein Entrinnen gibt. Der Samstagabend strahlt für die älteren Einwohner dieser schwedischen Kleinstadt in den bonbonfarbenen Tönen der Lottoshows im Fernsehen. Die Jugend betrinkt sich an exzessiven Hausparties.

Das soziale Geflecht, in dem sich die Jugendlichen bewegen, ist präzise beobachtet, die Szenerie authentisch angelegt. In grobkörnigen Bilderreigen schafft Moodysson eine intime, jedoch nie voyeuristische Beziehung zwischen Publikum und Leinwandgeschehen: Wir leiden mit, wenn sich Agnes ungeschickt die Pulsadern aufzusägen beginnt und bangen, wenn Dates arrangiert und die Eltern nervig werden.

Unter Hochspannung kommt es schliesslich zu einem ebenso temporeichen wie brillianten Ende. Dieses versinnbildlicht binnen weniger Minuten mit einem zynischen Augenzwinkern, was sich hinter der Redewendung "out of the closet" so alles versteckt hält. Mit Moodyssons dicht gehaltenem, subtilen Erstling kommt etwas ganz Rares auf die Leinwand: Ein wunderbares Stück Kino über jene Zeit des Lebens, in der einem die Welt zu eng ist, und wahres Glück bedeutet, das perfekte Mischungsverhältnis für Schokoladenmilch zu kennen.

15.02.2024

4

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Kommentare

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elac

vor 20 Jahren

Corinne ich kann mir nur deiner meinung anschliessen! Ich bin nicht Homosexuell aber den Film hab ich mir gleich auf DVD gekauft und werde ihn sicher noch viel gucken... und... Rebecca Liljeberg und Alexandra Dahlström spieln nicht nur verdammt gut sie sehen auch extrem Hübsch aus; -)


Gelöschter Nutzer

vor 22 Jahren

Mal was anders


Gelöschter Nutzer

vor 23 Jahren

So schön ehrlich und doch Kino


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