La leggenda del pianista sull'oceano Italien, Nord-Korea, Spanien, USA 1998 – 123min.

Filmkritik

Die Welt als Ozeandampfer

Filmkritik: Rafael Scholl

Die Legende vom Ozeanpianisten beginnt an Deck eines Passagierdampfers. Auf einmal schreit ein junger Mann mit italienischem Akzent: "America!" Wir sehen, wie das Schiff unter Gejubel auf die Freiheitsstatue zufährt. Es ist ein erhebender Moment: Nicht, weil eine Welle von amerikanischem Patriotismus das Publikum durchfährt, sondern weil hier das Gefühl des Sehnens nach etwas Besserem erfasst wird. Damit ist der Ton gesetzt, denn dies ist unter anderem ein Film über die Sehnsucht und die Art, wie sie unser Leben bereichern kann.

Wir befinden uns in den ersten Tagen des 20. Jahrhunderts. Auf dem Dampfer Virginian treffen Emigranten auf Ellis Island nahe New York ein, mit viel Hoffnung und wenigen Mitteln - so wenigen Mitteln, dass eine Frau ein Neugeborenes aussetzen muss. Der Seemann Danny findet den Jungen und nimmt ihn bei sich auf; er tauft ihn "Neunzehnhundert" (ital. 'Novecento'), seinem Geburtstag entsprechend. Sie führen ein einfaches, aber zufriedenes Leben, bis Danny ein paar Jahre später in einem Unfall stirbt.

Der Junge bleibt an Bord, das Schiff ist seine Welt. In einer beeindruckenden Aufnahme sehen wir ihn aus duch ein Bullauge blicken, während sich die Kamera davon entfernt, bis der ganze Dampfer im Bild ist. Dann, eines Nachts, setzt sich der Junge an ein Klavier und spielt, als hätte er nie etwas anderes getan. Einige Passagiere hören gebannt zu, und so beginnt die Musikerkarriere von Novecento; er wird zum Pianisten, ja zu einem Teil des Schiffes, das weiterhin scharenweise Menschen von der alten in die neue Welt befördert.

Der Film ist geprägt von einer zauberhaften Stimmung. Sie durchzieht ganz besonders Kernstücke wie jenen Moment, als wir Novecento erstmals als Erwachsenen sehen, wundervoll gespielt von Tim Roth: Zusammen mit dem seekranken Trompeter Max (Pruitt Taylor Vince), aus dessen Perspektive die Geschichte erzählt wird, setzt sich Novecento während eines Sturms an sein Klavier und löst die Bremsen an den Rädern -- die beiden rollen mit dem Instrument wild durch den Raum, während Novecento in aller Seelenruhe spielt - ein magischer Filmmoment!

Der Film ist englisch gesprochen und entsprechend besetzt. Doch es handelt sich um eine italienische Produktion, Giuseppe Tornatore zeichnet als Autor und Regisseur und die Musik stammt vom grossen Ennio Morricone, dem wohl berühmtesten aller Filmmusik-Komponisten. Auch Tornatore ist kein Neuling in der internationalen Filmszene, er erhielt 1989 einen Oscar für den besten fremdsprachigen Film, Cinema Paradiso. Die Geschichte vom Ozeanpianisten fusst auf dem Roman und Theaterstück "Novecento" von Alessandro Baricco. Eine lange Fassung von 160 Minuten ist in Italien erschienen, die internationale Fassung wurde allerdings auf humane 120 Minuten gekürzt.

Novecento "spielt" Leute: Er sieht sie auf dem Schiff und lässt sich von ihrem Leben und ihren Absichten inspirieren. Indem er ihre Sehnsüchte und Hoffnungen nachempfindet, bereichert er sein eigenes Leben; sonst würde er nichts anderes kennen als die Öde eines einzigen Dampfers. Es ist keine Überraschung, dass seine schönste Komposition entsteht, als er sich in das Gesicht einer Frau (Mélanie Thierry) verliebt. Nun wäre der Moment gekommen, eine eigene Sehnsucht zu entwickeln und ihr zu folgen. Stimmen die Beschreibungen des Festlands, die er von Passagieren aufgeschnappt hat? Wird er des Mädchens wegen das Schiff verlassen?

Während Filme wie The Matrix oder eXistenZ unsere Idee der uns umgebenden Realität auf zum Teil schmerzhafte Weise erweitert, hat Die Legende vom Ozeanpianisten einen ganz anderen Ansatz: Hier weiss einer von den engen Grenzen seines persönlichen Universums, und er schätzt sie sogar, versteht sie nicht als Einschränkung, sondern als seine Welt, in der er mit seinen Musik alles tun kann, was erdenklich ist. Der Film überzeugt mit einer bezaubernden Atmosphäre, einem Hauch unkritischer Nostalgie und einer Hauptfigur, die uns ans Herz wächst. Sein Charme entschädigt uns reichlich für das Fehlen einer starken Handlung.

22.02.2024

4

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