Filmkritik
Franzosen und Wahrheit
Acht Jahre nach "Les amants du Pont-Neuf" kommt der neue Film von Léos Carax in die Kinos. Die Kontroverse in Cannes liess erahnen, dass es sich bei "Pola X" nicht um einen gängigen Kinofilm handelt, der allerdings von Carax auch nicht zu erwarten gewesen wäre. Er macht es dem Publikum tatsächlich nicht einfach, sich mit seinen Figuren zu identifizieren, und konfrontiert es statt dessen mit düsteren Bildern und einer beunruhigen Handlung.
Pierre (Guillaume Depardieu) lebt ein sorgenfreies Leben. Mit seiner Mutter Marie (Catherine Deneuve) bewohnt er ein Schloss in der Normandie. Sein erstes veröffentlichtes Buch ist ein Kulthit, und die Hochzeit mit der hübschen Lucie (Delphine Chuillot) steht kurz bevor. In dieses problemlose Leben platzt Isabelle, eine Bettlerin, die sich als seine Schwester ausgibt. Pierre kann sich ihrem Bann nicht entziehen und sieht sich gezwungen, seine eigene Existenz zu hinterfragen. Schliesslich flüchtet Pierre mit Isabelle nach Paris, wo er sich dazu entschliesst, ein Buch über die Wahrheit zu schreiben. Doch die Anonymität der Grossstadt befreit ihn nicht von den Zwängen der Vergangenheit. Die Verlobte reist ihm nach und will ihn zurückzugewinnen. Die literarische Welt erwartet von ihm ein weiteres Meisterwerk. Doch mit dem wirren Durcheinander, das Pierre zu Papier bringt, können die Verleger nichts anfangen. Unaufhaltsam fällt Pierre tiefer und tiefer in den Abgrund, der sich seit der ersten Begegnung mit Isabelle unter ihm aufgetan hat.
In seinem ersten Film seit Les amants du Pont-Neuf präsentiert Carax einen Schriftsteller, der sich mit dem Kontrast zwischen Lüge und Wahrheit konfrontiert sieht. Der Schriftsteller verliert jeglichen Halt, als sich seine idyllische Traumwelt als ein Hort der Lügen entpuppt. In dem scheinbar so vertrauten Schloss entdeckt er Räume, die ihm zuvor verschlossen blieben, und das Erbe seiner Vorfahren, symbolisiert etwa im Motorrad des Vaters, behandelt er immer liebloser. Orientierungslos irrt Pierre durch eine ihm neue Welt.
"Pola X" ist der erste Film, für den Carax auf fremdes Material zurückgriff. Der Film basiert auf einem Roman von Herman Melville, in dem dieser auf die laue Publikumsreaktion auf seinen "Moby Dick" reagierte. Kein Wunder, wurde der Roman von der Kritik verrissen. Ähnlich erging es nun Carax selbst am Filmfestival in Cannes, wo man dem Regisseur selbstgefällige Repetition seiner vorangehenden Filme vorwarf. "Pola X" ist wirklich nicht leicht verständlich. Mit welcher Eindringlichkeit Carax diese Unverständlichkeit auf die Leinwand bringt, verdient jedoch Beachtung. Ausserdem bleibt dem Zuschauer immer genügend Zeit, sich noch während des Films Gedanken zu diesem zu machen. Lösungen für die Probleme bietet der Film freilich keine an. Woran sich der moderne Mensch in einer wirren Welt orientieren soll, wie er seinen persönlichen Weg zur Wahrheit finden kann, bleibt unbeantwortet. Nur für kurze Zeit gelingt es der von Guillaume Depardieu hervorragend gespielten Hauptfigur, Lüge und Wahrheit nebeneinander vereinen. Doch das Ungleichgewicht führt unabwendbar ins Verhängnis. Der düstere Film macht es im Herbst noch schwieriger die Sonne zu sehen. Carax konfrontiert das Publikum mit beunruhigenden Aufnahmen, und dies zeitweise in lähmender Langsamkeit. Eindrücke, die aber nicht so schnell ausgelöscht werden. Sicher kein einfaches Kinoerlebnis, aber ganz bestimmt ein lohnendes.
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