Nationale 7 - Uneasy Riders Frankreich 2000 – 96min.

Filmkritik

Nationale 7 - Uneasy Riders

Filmkritik: Nathalie Jancso

Sexualität von Behinderten ist ein Thema, an das die meisten von uns sogenannt "Normalen" keinen Gedanken verschwenden, das wir verdrängen und nicht wahrhaben wollen. Dem französischen Regisseur Jean-Pierre Sinapi gelingt es aber auf so witzige, subtile und unterhaltsame Weise, uns die sexuellen Wünsche und Sehnsüchte von Behinderten nahezubringen, dass wir uns der Geschichte und ihren liebenswerten Figuren nicht entziehen können. Und nebenbei beweist er auch, dass es Nichtbehinderte in dieser Beziehung nicht immer leichter haben!

René ist von seinem Leben im Rollstuhl frustriert und lässt seine schlechte Laune an Heimpersonal und MitpatientInnen aus. Auch Julie, die neue Pflegerin, kann sich seiner Provokationen anfangs kaum erwehren. Doch schafft sie es als Erste, dem ewig Unzufriedenen Paroli zu bieten und nach und nach sein Vertrauen zu gewinnen. Bald schon rückt er mit dem wahren Grund für seine miesepetrige Art raus: Er braucht Sex. Und da keine "Normale" mit einem Behinderten ins Bett möchte, braucht er eine Prostituierte, und zwar schnell. Dieser einfache Wunsch bringt die Heimleitung auf Touren, stellt sie vor eine scheinbar unlösbare Aufgabe. Als Julie sich schliesslich bereit erklärt, selber auf die Suche nach einer geeigneten und gewillten Person zu gehen, und diese auf der Nationalstrasse 7 auch findet, stellen sich plötzlich unüberwindbare rechtliche Probleme: Julie wird quasi zur Zuhälterin, wenn sie ohne Arztzeugnis eine Prostituierte für René anheuert! Sie entschliesst sich jedoch trotz aller Hindernisse, ihrem Schützling dieses Abenteuer zu ermöglichen. Renés erster Liebesausflug geht nicht ganz unbemerkt über die Bühne und bald melden weitere Patienten Interesse an...

Doch auch Julies Liebesleben ist nicht frei von Problemen: Sowohl Roland, Abwart und guter Geist des Heims, als auch der heiminterne Psychiater bemühen sich um ihre Aufmerksamkeit...Und dann ist da noch Rabah, der schwule Moslem und Johnny Halliday-Fan, der Katholik werden möchte und die Prostituierte Florèle zu seiner Taufpatin gewählt hat...

Renés Problem ist allzu menschlich, und die bürokratischen Hürden, die ihm in den Weg gelegt werden, lässt die gesellschaftliche Haltung gegenüber Behinderten geradezu grotesk erscheinen. Er muss, um seine natürlichen Bedürfnisse ausleben zu können, zuerst ein Tabu und dann auch noch ein Gesetz brechen. Und dabei legen er und die anderen Heimbewohner eine Freizügigkeit in Liebesdingen an den Tag, von der Roland und der Psychiater, die sich beide linkisch um Julies Gunst bemühen, nur lernen könnten.

Man könnte dem Film vorwerfen, dass er diese Gegenüberstellung von Offenheit und Verklemmtheit etwas zu sehr zu Gunsten der Behinderten nutzt. Letztlich wird aber jede der Figuren von Sinapi für voll genommen. Vielleicht mit Ausnahme des Psychiaters, der weniger am Wohl seiner PatientInnen interessiert scheint als daran, Julie auf möglichst plumpe Art ins Bett zu kriegen. Umwerfend hingegen Nadia Kaci ("Bab-el-Oued City") als Julie, die Neue, die anfangs noch unsicher und dann immer selbstbewusster das Schicksal ihrer Schützlinge in die Hand nimmt und bald warmherziger Mittelpunkt des kleinen Universums ist.

Die Schwester des Regisseurs war Vorbild für die Figur der Julie. Der Gebrauch der Handkamera (deren Gewackel hier aber auch für das dogmageschädigte Publikum durchaus erträglich ist) beweist wieder einmal, dass man damit wirklich näher am Gefühlsleben der Figuren ist. Die Hauptfiguren im Rollstuhl werden von (teils oscarwürdigen) SchauspielerInnen gespielt, die NebendarstellerInnen sind Laien. Mit diesen Vorgaben hätte "Nationale 7" ebensogut zu einem pseudo-dokumentarischen Lehrstück über Behinderung und Sexualität verkommen können. Aber Sinapi hat das Ganze mit Leichtigkeit in eine Komödie transformiert, die nie ins Seichte abgleitet und vor allem nie Mitleid mit den Hauptfiguren zulässt. Die Behinderten im Film sind nicht die armen Opfern ihrer Lebensumstände, im Gegenteil, sie sind manchmal ganz schön nervig, launisch und unausstehlich, dann aber wieder voller Witz und Humor. Es mag eine kleine Überwindung kosten, in diese uns fremde Welt abzutauchen, aber es lohnt sich!

18.05.2021

4

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