CH.FILM

Mutter Schweiz 2002 – 110min.

Filmkritik

Eine Geschichte, die das 20. Jahrhundert schrieb

Filmkritik: Daliah Kohn

Der Zürcher Journalist Miklós Gimes erzählt in seinem Dokumentarfilm die bewegte Lebensgeschichte seiner inzwischen 81-jährigen Mutter, in der sich die Umbrüche der ungarischen Geschichte spiegeln: Deutsche Besatzung, kommunistische Regierung, Ungarnaufstand und schliesslich die Emigration in die Schweiz.

Im November 1956 flieht der 6-jährige Miklós mit seiner Mutter aus Ungarn in die Schweiz. 1958 erfährt Alice Gimes, genannt Lucy, dass ihr Mann, der ebenfalls Miklós heisst, zusammen mit anderen Anführern des Ungarnaufstandes hingerichtet worden sei. Für kurze Zeit kursiert sie in der Weltpresse als Witwe eines Märtyrers. Doch das kümmert Lucy wenig. Sie hat es als allein erziehende Mutter nicht einfach. Erst 1989 wird Miklós Gimes ein offizielles Begräbnis erhalten. Hunderttausende nehmen daran teil, darunter auch Lucy und ihr Sohn Miklós. In ihm erwacht der Wunsch, mehr über seine Herkunft zu erfahren. Mit altem Foto- und Filmmaterial aus der ungarischen Nationalbibliothek versucht Gimes im Wechselspiel mit den Aussagen seiner Mutter, der Vergangenheit ein konkretes Gesicht zu geben. Auch zahlreiche Zeitgenossen seiner Eltern kommen zu Wort und schildern ihre Sicht der Dinge.

Als der Zweite Weltkrieg ausbricht, kann die junge Lucy als Jüdin falsche Papiere beschaffen und untertauchen. Nach dem Krieg wird sie in Budapest Mitglied der kommunistischen Partei und heiratet Miklós Gimes, der in der stalinistischen Parteizeitung Karriere macht. Nach Stalins Tod beginnt das Weltbild des Ehepaars zu bröckeln. Gimes wird Ratgeber des Reformkommunisten Imre Nagy. Auch im privaten Bereich kommt es zur Wende. Lucy erfährt, dass ihr Mann eine Geliebte hat, mir der er sich in der Öffentlichkeit zeigt. Doch die Geschichte funkt dazwischen: Gimes wird ins Gefängnis gesteckt, Lucy und ihr Sohn fliehen, der Reformkurs wird blutig abgebrochen.

Dem Regisseur gelingt es, die private Geschichte seiner Mutter mit der politischen zu verknüpfen. Die lebhafte Frau beeindruckt in der schonungslosen Auseinandersetzung mit Ideologien, die sich teils als falsch erwiesen haben. Der Film wirft Licht auf ein spannendes Stück Zeitgeschichte und lässt uns aus einer persönlichen Perspektive daran teilhaben.

19.02.2021

4

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