Filmkritik
Zeitreise ohne Schnitt
Alexander Sokurows Idee zu "Russian Ark" war so spektakulär wie der Aufwand immens: 87 Filmminuten ohne einen einzigen Schnitt. Und dabei handelt es sich nicht um ein Kammerspiel, sondern um einen historischen Rückblick, für den gegen 2000 SchauspielerInnen und StatistInnen aufgeboten wurden. Eineinhalb Stunden lang folgt die Kamera, geführt von Tilman Büttner, zwei Männern auf einem Spaziergang durch 35 Räume der Petersburger Ermitage und dreihundert Jahre russischer Geschichte.
Petersburg rüstet zur touristischen Vermarktung auf. Die von Peter dem Grossen 1703 auf dem sumpfigen Newa-Delta errichtete Stadt an der Ostsee wird 2003 dreihundert Jahre alt. Hektische Renovationstätigkeit geht einher mit aktiver Öffentlichkeitsarbeit. Dazu gehört auch der Film "Russian Ark".
Geplant war eine Produktion über die Kunstsammlung der Ermitage, dem Prunkstück Petersburgs. Das riesige, als Winterpalast geplante und kontinuierlich erweiterte Gebäude gehört heute zu den bedeutendsten Museen Europas. Als Alexander Sokurow dafür angefragt wurde, entwickelte er die Idee eines Filmes ohne Schnitt. Schon andere hatten diesen Wunsch; Alfred Hitchcock zum Beispiel ist ihm im Film "Rope" nahegekommen. Allerdings stiess man bisher an technische Grenzen; eine Filmkassette umfasste nur zehn Minuten und auch digitale Kassetten waren auf eine Stunde limitiert. Für diesen Film wurde deshalb extra ein System mit einer doppelten Harddisk entwickelt.
Neben all den technischen Superlativen verfügt "Russian Ark" aber doch auch über eine Handlung, oder besser gesagt, über Handlungsschnipsel, die durch zwei Zeitreisende zusammengehalten werden. Ein unsichtbarer Erzähler mit der Stimme des Regisseurs findet sich unvermutet im 18. Jahrhundert, vor einen Seiteneingang der Ermitage katapultiert. Zunächst scheint er für alle unsichtbar, bis er einen französischen Diplomaten findet, den offenbar dasselbe Schicksal getroffen hat.
Gemeinsam wandern sie nun durch die Räume und begegnen dort verschiedenen Persönlichkeiten, solchen, die man aus dem Geschichtsbuch kennt – Peter der Grosse, zwei Katharinas, die Erste und die Grosse – aber auch namenlosen Figuren. Das zwanzigste Jahrhundert kommt dabei merklich weniger zum Zug als die beiden vorhergehenden. Der Diplomat erweist sich als reichlich unsympathischer Zyniker, was dem Film nicht unbedingt zu gute kommt. Zwischen ihm und dem Erzähler entwickelt sich ein ununterbrochener Diskurs über Russland im Allgemeinen, Petersburg und seine Bestrebungen, eine "europäische" Stadt zu sein, im Besonderen. Durch unzählige Räume und Gänge bewegen sich die beiden, an Gemälden Rembrandts und El Grecos vorbei. Schliesslich finden sie sich in einer grossen Schlussszene in dem Ballsaal wieder, im Jahre 1913, mitten im letzten Grossen Ball, den Nikolaus der Zweite hier gab.
Um die technischen und logistischen Leistungen zu würdigen, reiht man zwangsläufig einen Superlativ an den nächsten: So mussten beispielsweise über 2'000 Statisten während der 87 Drehminuten jederzeit am richtigen Ort stehen, damit alles klappte! Es ist kein Zufall, dass von dieser Seite des Filmes wesentlich mehr zu hören ist, als von seinem Inhalt; die Diskussionen zwischen dem französischen Zyniker und dem unfassbar bleibenden Erzähler wollen einfach nicht so recht vom Fleck kommen.
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