Nobody Knows Japan 2004 – 141min.

Filmkritik

Versteck dich! - kein lustiges Kinderspiel

Filmkritik: Eduard Ulrich

Kaum zu glauben: In Tokio wachsen vier Kinder ohne regelmässige Betreuung und nicht amtlich registriert auf. Was sich wie ein schlechter Scherz über eine der am stärksten regulierten Gesellschaften anhört, beruht auf Tatsachen, die von Hirokazu Kore-eda zu einer berührenden Folge von Episoden geformt und mit hinreissenden Laiendarstellern in Szene gesetzt wurden. Auszeichungen u.a. in Cannes 2004 sind wohlverdient.

Obwohl nur mit einfachen filmtechnischen Mitteln gearbeitet wird, nimmt schon der fulminante Start gleich gefangen und zeigt programmatisch, dass hier mit inszenatorischen Ideen und originellen Wendungen gewuchert wird. Jedenfalls wird man die Umzugstechnik der alleinstehenden Mutter nicht so schnell vergessen - vom Nachahmen wird allerdings abgeraten. Dieser Umzung in eine grössere Wohnung sieht wie der Start in ein neues Leben aus, und er entpuppt sich nach und nach tatsächlich als solcher - allerdings in vollkommen unerwarteter Weise: Durften die drei jüngeren Geschwister, die wie der Älteste von verschiedenen Vätern stammen, bisher nicht einmal die Wohnung verlassen, so wendet sich das Blatt notgedrungen, nachdem die Rabenmutter mit ihrem neuen Liebhaber verduftet, der wie Vermieter und Nachbarn nichts von den Kindern wissen darf. Wenn sie auftaucht, beweist sie ihren mangelnden Sinn für Realität und die Bedürfnisse ihrer Kinder. Und was sich unsere Kinder immer wünschen, nicht zur Schule gehen zu müssen, wird hier zu einem existentiellen Manko.

Geldmangel und ein Nachlassen der bisher eisernen Disziplin im Schattendasein zwingen diese beinah autonome Kleinstkommune neue Wege zu beschreiten. Recht erstaunlich, dass der (vorhandene) Fernseher nicht genutzt wird, um ein Fenster in die Welt ausserhalb des hermetischen Kosmos' zu öffnen. Genau so unspektakulär wie die Inszenierung kommen die wahrhaftig dramatischen Ereignisse und Umwälzungen daher. Analog dazu verzichtet der Film sowohl auf explizite als auch implizite Erklärungen, stattdessen wird auf die Kombinationsgabe des Publikums vertraut. Wer wenig von der japanischen Gesellschaft weiss, muss zwischen den Zeilen lesen. Das ist nicht so schwer, aber nicht einmal nötig, um fasziniert bis zu den letzten Bildern auf diesen fremden Planeten zu blicken, der im Paralleluniversum für mittel- und elternlose Kinder liegt, aber gleichzeitig im Zentrum einer technischen Zivilisation und doch vollkommen verborgen.

Gemeinsam ist diesen beiden Welten die menschliche Natur, die auch dem europäischen Publikum das Mitfühlen ermöglicht, wenn es den typischen Wünschen, Sorgen und Entwicklungsschritten dieser ungemein lebenstüchtigen Artgenossen zusieht. Da zeigt sich die glückliche Hand des Regisseurs nicht nur bei der Auswahl, sondern auch bei der Führung seiner Hauptdarsteller in ihrer unbeschwert gelungenen Premiere vor der Kamera.

07.03.2022

4.5

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Kommentare

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caravaggio

vor 10 Jahren

ein unendlich bewegender film!


Barbarum

vor 12 Jahren

Der Film ist zweifellos ein abitioniertes Werk, aber für meinen Geschmack eindeutig zu lang geraten. Man wird auf eine harte Geduldsprobe gestellt.


pedrazzoli

vor 18 Jahren

starkes thema, schwache umsetztung. dennoch muss man ihn mal gesehen haben.


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