Filmkritik
Fegefeuer in Sarajewo
Gab es je den Versuch, einen Dokumentarfilm über Hölle, Fegefeuer und Paradies zu drehen? Diese drei zentralen Begriffe des Christentums gliedern Jean-Luc Godards Werk nicht nur formal, sondern hängen die Messlatte auch ziemlich hoch. Aber Achtung! Gläubigen kann das blasphemisch erscheinen oder ihre Heilsgewissheit beschädigen.
Die drei Teile sind sehr verschieden: "Hölle" und "Paradies" sind zusammen nur ein Drittel so lang wie "Fegefeuer", und die filmischen Mittel sowie das Genre sind ebenfalls völlig unterschiedlich. Glücklicherweise ist der Teil "Hölle", eine aufwühlende Collage aus Teilen von Dokumentarfilmen über Krieg und Vernichtung sowie gewalttätigen Spielfilmschnipseln, bereits nach 8 Minuten zu Ende. Dieses Feuerwerk der Zerstörung und des Tötens führt die unendliche Grausamkeit der menschlichen Geschichte vor und ist nur mit Musik und manchmal etwas gesprochenem Text unterlegt. Das erzielt eine starke Wirkung, gerade weil der oberflächliche Schlachtenlärm fehlt.
Der zentrale Teil, das "Fegefeuer", dokumentiert lückenhaft einen Besuch Jean-Luc Godards in Sarajewo, wo er einen Vortrag über Filmkunst hält. Neben dieser semi-dokumentarischen Schiene gibt es beinah surreal anmutende Szenen, in denen beispielsweise Indianer die Kolonisation beklagen. "Notre Musique" zeigt auch sehr persönliche Dialogszenen, in denen über den Verlauf und Sinn des Lebens, die Bedeutung des Todes und das Problem des Versöhnens und Verzeihens gesprochen wird, angesichts der unermesslichen Gewalt, der einzelne viel zu oft ohnmächtig ausgesetzt sind.
Immer wieder sind überraschende und scheinbar zweckfreie Bilder und Szenen eingeschoben, darunter viele visuelle Bijoux, die man oft kaum richtig geniessen kann, weil sie so kurz aufblitzen - beides ist typisch für Godards Filme der jüngsten Stilperiode. Von Vorteil ist auch, wenn man Spanisch kann, da der spanische Schriftsteller Juan Goytisolo, 1993 Kriegsbeobachter in Sarajewo, eigene Texte ohne Untertitelung rezitiert.
Im letzten Teil, dem "Paradies", werden biblische (Eva reicht Adam den Apfel) und nationale (USA als Friedensstifter) Mythen zu einer vor Ironie triefenden Melange angerührt. So klingen der Ernst und die Schwere der vorangegangenen Teile verblüffend beschwingt und tröstlich aus. Wichtig und erfreulich: Die Musik bietet mit Pärt, Silvestrov, Komitas und anderen Komponisten eine feine Auswahl moderner, eingängiger Kunstmusik. Ebenso erfreulich: die gewohnt hervorragende handwerkliche Qualität der Bilder.
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Kommentare
Gelöschter Nutzer
Verfasst vor 20 Jahren
Ein absolutes Meisterwerk!
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