Simons Geheimnis Kanada 2008 – 102min.

Filmkritik

Die Fähigkeit zur Fiktion

Cornelis Hähnel
Filmkritik: Cornelis Hähnel

Das Werk des kanadischen Regisseurs Atom Egoyan ist geprägt von der Frage nach Schein und Sein, vom Widerspruch der Fakten und einer subjektiv empfundenen Wahrheit, zudem vom Einfluss technischer Medien auf die zwischenmenschliche Kommunikation und das moderne Leben. Nach Fotografie, Satellitenbildern und Videokameras konzentriert er sich bei «Simons Geheimnis» auf die Rolle des Internets.

Eine Schule in Toronto. Die Französischlehrerin Sabine macht mit ihrer Klasse eine Übersetzungsübung. Die von ihr aus der Zeitung diktierte Geschichte ist von aktueller Brisanz: Eine hochschwangere Frau wollte nach Israel, ins Heimatland ihres Verlobten fliegen, doch die Zollbeamten entdecken im Gepäck der werdenden Mutter Plastiksprengstoff und einen Zünder. Ihr zukünftiger Mann hatte die Bombe ohne ihr Wissen in ihren Sachen platziert, sie sollte im Flugzeug explodieren. Er wollte seine große Liebe und sein ungeborenes Kind für seine Überzeugung opfern. Einer der Schüler, Simon, wandelt die Geschichte bei seiner Übersetzung ab und versetzt sich in die Rolle des Sohnes, den der Vater sterben lassen wollte. Sabine ermuntert ihn, dessen Eltern bei einem Autounfall ums Leben kamen, seine Version weiter auszubauen, um sie beim Theaterfest der Schule aufzuführen. Doch Simon verbreitet seine Version auch in einem Chatroom und schnell entwickelt seine Lüge eine unkontrollierbare Eigendynamik.

Ausgangspunkt und Inspiration für den zentralen Handlungsstrang war eine Zeitungsmeldung aus dem Jahr 1986, in dem über einen Jordanier berichtet wurde, der seiner schwangeren Freundin eine Bombe ins Gepäck geschmuggelt hatte. Diese Geschichte hatte bei Egoyan einen bleibenden Eindruck hinterlassen, doch erst 20 Jahre später beschäftigte er sich wieder intensiver mit dem vereitelten Terrorakt und überlegte, was wohl aus dem Kind geworden sei und wie es mit dem Wissen um die geplante Tat des Vaters lebt.

Mit «Simons Geheimnis» läuft Atom Egoyan wieder zu alten Hochformen auf. Nach dem relativ drögen und gefälligen 1950er-Jahre-Krimi «Wahre Lügen» überzeugt er wieder auf allen Ebenen: In gewohnt elliptischer Erzählweise, mit elegischen Bildern und bewusster Fragmentierung präsentiert Egoyan ein dichtes Drama über Wahrheit und Fiktion, Nähe und Intimität, Hass und Paranoia. Dabei hinterfragt der Film religiöse Vorurteile, hysterische Terrorangst und den unkontrollierbaren Informationsfluss des Internets ebenso wie Strukturen des Familienlebens. Was an sich abgedroschen klingt, bezieht seine faszinierende Kraft aus dem geschickt verwobenen Plot.

Denn letztlich ist nichts passiert. Egoyan konzentriert sich auf die Fiktion innerhalb der Fiktion und kreiert so ein Gedankenspiel, welches sich verselbständigt und somit selbst fundamentiert wie zugleich auch demontiert. «Simons Geheimnis» versucht weder Wahrheiten noch Erklärungen zu finden, sondern zeichnet auf vielschichtige Weise Gedankengänge nach, die allein für sich stehend vielleicht banal daherkommen mögen, aber in ihrer Summe ein komplexen Kommentar der modernen Welt abbilden. Denn egal ob real oder fiktiv, sobald wir uns etwas ausmalen, beschäftigen wir uns damit.

17.02.2024

5

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