So viele Jahre liebe ich Dich Frankreich 2008 – 115min.

Filmkritik

Blick zurück nach vorn

Sonja Eismann
Filmkritik: Sonja Eismann

In seiner ersten Regiearbeit nimmt sich der französische Schriftsteller Philippe Claudel gleich einen harten Brocken vor: mit einer faszinierend verhärteten Kristin Scott Thomas als gebrochener Täter-Opfer-Figur thematisiert er Kindsmord, Familienbande und natürlich Schuld und Sühne. Das Setting in einem gepflegten bourgeoisen Umfeld führt jedoch dazu, dass die harten Kanten von den gefälligen Bildern abgeschmirgelt werden.

Als Juliette von ihrer jüngeren Schwester Léa am Flughafen abgeholt wird, hat sie nur einen einzigen Koffer dabei. Versteinert starrt die verwitterte Mittvierzigerin ins Leere; die Zigarette, an der sie sich festhält, gibt sie nicht aus der Hand, während sie sich abwesend von ihrer aufgeregten Schwester umarmen lässt. Ein Mühlstein scheint um ihren Hals zu liegen, der das Tausendfache des unscheinbaren Gepäcks wiegt, mit dem sie in ein neues Leben entlassen wird. Kristin Scott Thomas spielt die Gebrochene mit einer solchen Schwere, dass sofort klar ist, dass in ihrem Leben etwas Monumentales vorgefallen sein muss. Als im Film enthüllt wird, dass Juliette 15 Jahre im Gefängnis war, weil sie ihren sechsjährigen Sohn umgebracht hat, ist der Schock für das Publikum nicht halb so groß wie für den Geschäftsführer, der sie eigentlich für seinen Betrieb anstellen wollte und nun angewidert von dannen jagt.

Juliette zieht direkt nach der Entlassung bei ihren lebensfrohen, stets verständnisvollen Schwester ein, die mit Mann, kauzigem Schwiegervater und zwei adoptierten asiatischen Töchtern eine glückliche Akademiker-Bilderbuchfamilie "à la Benetton" in einem gepflegten Haus in Nancy führt. Gegen das Misstrauen ihrer Umwelt - allen voran ihres Ehemanns Luc, der beharrlich nach dem "Warum" der monströsen Tat fragt - will Léa offensichtlich die Jahre des abgebrochenen Kontaktes, als Juliette von ihrer eigenen Familie verteufelt wurde, wieder gut machen. Juliette reagiert zunächst kaum auf diese bedingungslose Gutherzigkeit, doch es ist faszinierend zu sehen, wie die Versteinerung nach und nach von ihr abfällt und ganz langsam wieder "menschliche" Regungen an die Oberfläche dringen. Im Umgang mit einem netten, aber depressiven Polizeibeamten, Freunden von Léa und vor allem mit ihrer achtjährigen Nichte kehrt so etwas wie weicher Lebenswille in ihr verhärtetes Gesicht zurück.

Der selbst aus Lothringen stammende Romanautor Philippe Claudel umgibt die Protagonistin in seiner ersten Regiearbeit dabei mit Figuren, die nach und nach selbst eine Beschädigtheit enthüllen und dadurch zu ihr und ihrem Leiden durchdringen können: der alte Schwiegervater, der nach einem Schlaganfall nicht mehr sprechen kann, der irakische Arzt, dessen gesamte Familie im Krieg ausgelöscht wurde, oder der Schwerenöter von der Uni, dessen Frau vor zehn Jahren bei einem Autounfall starb. Leider geht er dabei so unsubtil vor wie mit dem beständigen Durchs-Bild-Zerren von unbeschwerten Kindern, die auch noch den Letzten klar machen sollen, wie sehr Juliette unter ihrer Tat leidet. Zudem kleistert er alles mit preziösen Bildern und stimmungsvoller Musik zu, so dass der Film letztlich so schwerfällig wirkt wie Juliette bei ihrer Entlassung aus dem Knast. Ein bisschen mehr nüchterner Sozialrealismus und weniger Verliebtheit in gediegene Bilder hätten dem nicht unspannenden Thema sicherlich gut getan.

11.09.2008

3

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Kommentare

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vor 14 Jahren

Ein wenig amüsanter Film, der einen schon deprimieren kann. Das Ambiente ist zunächst der übliche Familienalltag von heute, mit all seiner Hektik und Komik. Da platzt Juliette hinein. Kristin Scott Thomas ist furchterregend ernst. Man ahnt von ihrem Verhalten her ihre tragische Vergangenheit: schuldig oder unschuldig? Ganz allmählich kommen in Gesprächen Details ihrer Tat an Licht. Natürlich hat sie ihren kleinen, sterbenskranken Sohn geliebt und dennoch…
Die eigentliche Problematik wird nur narrativ dargestellt. Im Anschluss kann man darüber ja diskutieren. Bleibt die Frage: Warum hat sie so lange geschwiegen? Wollte sie sich bewusst bestrafen? Die Antwort, die der Film letztlich gibt, lautet: auch Sterbehilfe ist Mord. Oder geht es um Schuld und Sühne? Ein Film für eine überschaubare Zielgruppe z. B. auf Filmfestivals.Mehr anzeigen


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