Julia Belgien, Frankreich, Mexiko, USA 2007 – 144min.

Filmkritik

Im Delirium

Sarah Stähli
Filmkritik: Sarah Stähli

Eine Alkoholikerin wird in eine Kindesentführung verwickelt und begibt sich auf eine rasante Odyssee, die sie ins Gangstermilieu Mexikos führt. Zwischen dem entführten Jungen und seiner labilen Kidnapperin entwickelt sich eine ungewöhnliche Beziehung. Tilda Swinton brilliert erneut in einer Paraderolle, in der sie bis zum Äussersten geht.

Julia säuft sich jeden Abend bewusstlos. Am Morgen danach wacht sie in fremden Wohnungen, in fremden Betten, neben fremden Männern auf - mit ausgetrocknetem Mund, höllischen Kopfschmerzen und ohne Erinnerungen an die vergangene Nacht. Julia ist Alkoholikerin ohne die geringste Lust, von ihrer Sucht los zu kommen. An den Anonymen-Alkoholiker-Treffen, zu denen sie ein Arbeitskollege zwingt, schaut sie nur spöttisch zu und ekelt sich vor den Wir-haben-uns-alle-lieb-Umarmungen der anderen Teilnehmer.

Als sie wegen ihres ausschweifenden Nachtlebens ihre Arbeit verliert, kommt ihr das Angebot einer mexikanischen Nachbarin gerade recht. Diese will ihren Sohn zurückholen, der ihr von seinem Grossvater weggenommen wurde. Julia soll als Kidnapperin agieren und grosszügig belohnt werden. Als der Plan nicht wie vorgesehen funktioniert, befindet sich die im Rausch torkelnde Entführerin bald einmal auf der Flucht, im Kofferraum einen vorlauten achtjährigen Bengel, den seine Entführung eher langweilt. Eine rasante Odyssee ins Ungewisse beginnt und zum ersten Mal baut die Unstete - die von sich sagt: «Im a desaster to be in love with» - so etwas wie eine Beziehung auf.

Die britische Ausnahmeschauspielerin Tilda Swinton, die in jeder Einstellung zu sehen ist, spielt diese trotzige, vom Leben enttäuschte und doch starke Frau am Rande des Zusammenbruchs grossartig. Mit viel Mut zur Hässlichkeit absolviert die Muse des verstorbenen Filmkünstlers Derek Jarman, eine gewaltige schauspielerisch Tour de Force. Für ihre Rolle im Thriller "Michael Clayton" hat sie eben ihren ersten Oscar gewonnen. Swinton schwankt zwischen jugendlichem Übermut und grosser Verlorenheit.

Die atemlose Kamera ist immer ganz nahe dran an der Protagonistin und folgt ihr in die verrauchten Bars, die heruntergekommene Wohnung und in die menschenleere Wüste Mexikos. Julia, die mit Kindern überhaupt nichts anfangen kann, entwickelt sich im Verlaufe des Filmes von einer gewaltbereiten Kidnapperin zu einer beinahe fürsorglichen Mutter auf Zeit.

Die temporeiche Inszenierung des französischen Regisseurs Erick Zonca ("La vie rêvée des anges") ist einmal Charakterstudie, dann wieder ein Roadmovie und endet als Thriller in der mexikanischen Unterwelt. Als eine Inspiration diente dem Regisseur angeblich John Cassavetes, im Gangstermilieu angesiedeltes Drama "Gloria".

"Julia" ist ein unberechenbarer, oft beklemmender Film, der überraschende Wendungen nimmt, ganz so, wie das im Rausch geschehen kann.

17.02.2024

4

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Kommentare

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anabah

vor 13 Jahren

Der Film ist keine einfache Kost. Ich weiss nicht so recht, wie ich ihn einordnen soll. Teilweise ist die Story recht weit dahergeholt, vorallem bei den Szenen in Mexico. Tilda Swinton jedenfalls spielt die Rolle der Entführerin perfekt, man nimmt es ihr ab. Der offene Schluss hätte noch ausgeführt werden können. Trotzdem sehenswert!Mehr anzeigen


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