CH.FILM

Breath Made Visible Schweiz, USA 2009 – 82min.

Filmkritik

Das Leben als Tanz

Rolf Breiner
Filmkritik: Rolf Breiner

Ihr Leben heisst Tanz: Die bald 90-jährige Tanzikone Anna Halprin verkörpert wie keine zweite Leben, Lust und Leidenschaft in ihrer Körperperformance. Der Berner Ruedi Gerber hat über diese Künstlerin, Pädagogin und Darstellerin ein faszinierendes Filmdokument geschaffen.

Eine Bühne, ein Kostüm, eine Maske. Eine Tänzerin enthüllt sich, demaskiert sich. Mit dieser Einstellung stimmt der Schweizer Filmer Ruedi Gerber auf sein Filmporträt «Breath Made Visible» ein. Im Zentrum steht die bald 90-jährige Performancekünstlerin und Tänzerin Anna Halprin, 1920 in Illinois geboren. Gleich am Anfang des Films gibt sie das Credo ihres Lebens, den Leitsatz ihrer Darstellung und Huldigung preis: «Meine grösste Liebe heisst Tanz in der Natur. Tanz ist das, was du siehst, schmeckst, hörst, fühlst. Tanz macht den Atem sichtbar.»

Gerber lädt zu einer Zeit- und Entdeckungsreise von den 1960er Jahren bis in die Gegenwart. Bereits als Fünfjährige wurde Halprin vom Tanz infiziert, vom Tanzfieber gepackt. Ihre Wurzeln liegen in Russland. Anna Halprin hat das Tanztheater revolutioniert und neu definiert und einen langen Weg zurückgelegt über sieben, acht Jahrzehnte. Sie musste von der Bühne vor Jahren Abschied einmal nehmen und ist zurückgekehrt. Schwarzweisse Archivbilder werden mit modernen Farbaufzeichnungen verbunden, treten in Kontakt, verschmelzen. Doch nicht nur ihre Tanzexperimente, -botschaften und -erziehungsambitionen sind Thema dieses eindrücklichen Porträts, sondern auch die Beziehungen zur Umwelt, zu Menschen, zum menschlichen Geist, zum Lebenspartner, dem Landschaftsarchitekten Lawrence «Larry» Halpin (der indes verstorben ist).

In Halpins Arbeit, vor allem aber ausserhalb der Bühnenbretter, kommen der Mensch, sein Leben, seine Gefühle zum Ausdruck. Der Film spannt einen grossen Bogen zwischen kalifornischen Wäldern, Küsten, Bühnen und Natur. Dabei fangen die Kameraleute Adam Teichman und Elia Lyssy poetische Bilder ein, dokumentieren die Einblicke von Wegbegleitern, etwa von der Tochter Daria oder vom Tänzer John Graham.

Für Anna Halprin - und das ist der faszinierende Kern dieses Porträts - bedeutet Tanz nicht künstlerischer Ausdruck, sondern Lebenselixier. Sie selbst war in den 1970ern erkrankt, nahm Abschied von der Bühne und kehrte 2004 zurück. Sie behauptet, das Tanzen hätte sie geheilt und jeder Mensch trage Tanzanlagen in sich. Insofern geht Gerbers vielschichtiges Porträt weit über Tanz und schöne, manchmal nostalgische Aufzeichnungen hinaus. Tanz wird hier in Wort und Bild zum individuellen Bekenntnis, zur existentiellen Spiegelung, zur nackten Menschwerdung und Hoffnung.

12.06.2024

4

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