Vous n'avez encore rien vu Frankreich, Deutschland 2012 – 115min.
Filmkritik
Rendez-vous im Schattenreich
Zusammen mit einem Star-Aufgebot an französischen Schauspielern verhandelt Alain Resnais die Unmöglichkeit einer perfekten Liebe. Die im Titel angekündigte Überraschung bleibt leider aus.
Der Titel seines neusten Films Vous n'avez encore rien vu kann gut auch über das gesamte filmische Schaffen Alain Resnais gesetzt werden. Seit den 1950er-Jahren überrascht der Franzose mit jedem seiner Filme. 1955 erschütterte sein Essayfilm Nacht und Nebel über die Konzentrationslager des Dritten Reichs Generationen und wurde für so manchen Cinéphilen zum Traumata seiner Passion. Es folgten die Klassiker der Filmgeschichte Hiroshima, mon amour und Letztes Jahr in Marienbad mit ihren revolutionären Erzählweisen. Seitdem realisiert Resnais kontinuierlich Filme im Takt von zwei bis drei Jahren, zuletzt vor allem Komödien, die auf ungewohnte Weise und mit viel Poesie die Möglichkeiten unserer Leben und Lieben verhandeln.
Angesichts des hohen Alters des verdienten Filmemachers laden seine Arbeiten dazu ein, diese als eine Art Prolog auf sein Künstlerleben zu interpretieren. Zumal Vous n'avez encore rien vu damit beginnt, den Tod eines Regisseurs kundzutun: Mehrere Schauspieler erhalten einen Telefonanruf, der sie über das tragische Ereignis informiert und sie einlädt, sich im Ansitz des Verstorbenen für die Testamentsverlesung zusammenzufinden. Die geladenen Darsteller sind nicht nur im Resnais-Universum bekannte Gesichter: Sabine Azéma, Mathieu Amalric, Lambert Wilson, Michel Piccoli, Anne Consigny, Pierre Arditi - um nur die Bekanntesten zu nennen.
Auch die Thematik des Films ist eine populäre bei Resnais: die Liebe, oder genauer die Sehnsucht nach ihr. Dieses Mal dient der antike Mythos der beiden Liebenden Eurydike und Orpheus zu ihrer Verhandlung. Der dramatische Text aus der Antike inspirierte Künstler aller Sparten, vor allem die Oper und das moderne Theater haben die musisch tragische Vorlage zum Stand der Liebe in ihren jeweiligen Zeiten befragt. In Vous n'avez encore rien vu lässt Resnais die Geladenen eine zeitgenössische Theateraufführung des französischen Dramatikers Jean Anouilh begutachten. Bald regen sich die Erinnerungen und die Schauspieler beginnen selbst ihre ehemaligen Textpasssagen aufzusagen, ganze Szenen nachzuspielen. Die Figuren, der Text, Film und Theater, die Generationen verdoppeln und vermischen sich mehr und mehr. Ein Spiel über die Ohnmacht der Worte nimmt seinen tragischen Lauf.
In Smoking/No Smoking liess Resnais allein zwei Schauspieler fünf Stunden lang verschiedene Varianten des Lebens durchspielen und es wurde nie langweilig. Vous n'avez encore rien vu bewirkt das leider nicht. Der konzeptuelle Unterbau des Film führt nicht sehr weit und ab einem Moment schaut man einfach nur schön inszeniertes Alt-Herren-Theater. Resnais arbeitet bereits an seinem nächsten Film. Dieser trägt bisher den lebenshungrigen Titel Aimer, boire et chanter. Wir möchten uns gerne noch viele Male wundern mit Alain Resnais.
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