L'abri Schweiz 2014 – 101min.
Filmkritik
Am Ende der Schweizer Fahnenstange
Wo schlafen? Der welsche Regisseur Fernand Melgar vervollständigt mit L’abri die Trilogie, die im Zeichen der Migration steht.
L'abri ist die grösste dreier Notschlafstellen in Lausanne. Vor der Zivilschutzanlage stehen jeden Abend zahlreiche Obdachlose hinter den Absperrgittern an; sie alle hoffen, für fünf Franken ein Dach über dem Kopf und eine warme Mahlzeit zu erhalten. Die meisten sind Zugewanderte: Afrikaner, Roma, aber auch Spanier, welche ihr Heimatland der Wirtschaftskrise wegen verlassen haben.
Die Zahl der wartenden Menschen übersteigt die Kapazität von 50 Schlafplätzen stets deutlich. Es ist Winter in Lausanne, niemand möchte bei Minusgraden im Park oder Auto schlafen. Eines von beiden wird jedoch für viele dieser Menschen die einzige Möglichkeit, die Nacht zu verbringen. Entsprechend rabiat geht es vor den Türen der Zivilschutzanlage zu und her, wenn das Personal seine Selektion vornimmt. Danach ist es nicht die Dankbarkeit der Eingelassenen, die überwiegt, sondern die Frustration der Ausgesparten. Gleich geht es indes allen in dem Einen: Sie finden in der Schweiz keinen Halt.
Fernand Melgar hat sich mit den vorzüglichen Dokus La Forteresse (2008) und Vol spécial (2011) ausdrücklich als Humanist unter den Schweizer Filmschaffenden hervorgehoben. Eindrücklich machten diese beiden Werke nicht nur die schonungslose Adressierung des Themas Migration, sondern auch ihre Fertigung. Melgar verzichtet nämlich vollends auf Kommentare oder Interaktion von seiner Seite aus. Den Zuschauer lässt er eine Augenzeugenrolle einnehmen: er wird die Fliege im Raum.
Auch in L'abri beeindruckt Melgars Fähigkeit, diesen Zustand abermals herzustellen. Man scheint einfach überall dabei zu sein: Beim innigsten Gespräch, bei jedem Telefonanruf, beim Einschlafen, beim Aufwachen. Die Hintergründe der Obdachlosen werden von ihnen selbst ausgeleuchtet. Gleiches gilt überdies für die Sozialarbeiter, deren Tätigkeit und Handlungen sich durch Gespräche untereinander schlüssig darlegen.
Auf visuelle Ästhetik verzichtet Melgar: Alles Geschönte würde die Authentizität von L'abri verfälschen. Auch unterlässt er eine plakative Gegenüberstellung mit der reichen Schweiz. Schliesslich weiss jeder, welch Wohlstand in diesem Land anzutreffen ist. Dann und wann lässt er sich trotzdem zu kleinen Kontrastierungen verleiten. Etwa zu einer Nahaufnahme eines Schweizerkreuzes, das auf der Kappe eines weinenden Mannes prangert.
Wenn man an Melgars Film etwas kritisieren möchte, dann seinen beständigen Pessimismus. Anna Thommens Doku Neuland war ein grossartiges Beispiel dafür, wie auch positive Wendungen das schwierige Thema Migration keineswegs zu neutralisieren vermögen. Solche Wendungen wird es auch in der Notschlafstelle L'abri gegeben haben. Fernand Melgar schienen sie wohl zu wenig gewichtig.
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Kommentare
Ein beeindruckender und starker Film welcher unter die Haut geht und dankbar macht...
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