Land der Wunder Deutschland, Italien, Schweiz 2014 – 110min.
Filmkritik
Charmant dysfunktional
Mit jenem Kino, in dem schöne Menschen schöne Dinge tun, hat Alice Rohrwacher mutmaßlich nicht allzu viel zu tun. Schönheit – zumindest im konventionellen Sinne – ist jedenfalls nichts, was im Leben ihrer Protagonisten in Le meraviglie eine allzu große Rolle spielt. Wenn Kino allerdings bedeutet, sich in fremde, faszinierende Welten entführen zu lassen, dann dürfte man dem Selbstverständnis der italienischen Regisseurin schon näher kommen. Und in ihrem zweiten Spielfilm findet sie eine solche Welt sogar direkt vor der eigenen Haustür und in der eigenen Biografie.
Im Zentrum von Le meraviglie steht die 14-jährige Gelsomina (Maria Alexandra Lungu). Mit ihren drei kleinen Schwestern, dem latent aggressiven deutschen Vater (Sam Louwyck) und ihrer überarbeiteten italienischen Mutter (Alba Rohrwacher) lebt sie in mit "einfach" noch charmant umschriebenen Verhältnissen auf einem Bauernhof am entlegenen Südrand der Toskana.
Zivilisation oder gar Großstadt scheinen hier weit weg zu sein: der Alltag besteht aus Tomaten ernten, Schafe füttern und der für den Lebensunterhalt notwendigen Honig-Produktion, das Wohnhaus ist ordentlich heruntergekommen und von staatlich verordneten Hygienevorschriften hat noch niemand etwas gehört. Doch auch in dieser Lebenswelt ist Gelsomina, das eigentliche Familienoberhaupt, ein Teenager wie jeder andere. Was sich mehr denn je zeigt, als mit einem kriminellen deutschen Pflegekind sowie einem in der Nähe aufgezeichneten (und von Monica Bellucci moderierten) Fernsehwettbewerb die Außenwelt heftiger denn je in die eigentümliche Blase der Familie eindringt.
Es ist wahrlich eine ungewöhnliche, kaum je im Kino gesehene Welt, in die uns Rohrwacher in Le meraviglie mitnimmt, und die Detailliertheit, mit der sie dieses Milieu und diese Region aufzeigt, ist bemerkenswert greifbar. Das liegt an den sonnendurchfluteten, aber alles andere als idyllischen Bildern ebenso wie an den – wahrlich nicht geschwätzigen – Schauspielern; allen voran an der jungen Neuentdeckung Lungu, die auch ohne viele Worte ein Gefühl vermittelt, mit welchen Tücken jenseits der ganz gewöhnlichen Pubertät es dieses Mädchen zu tun hat.
Weil sich Rohrwacher, die mit Le meraviglie in Cannes den Grand Prix gewann, ganz auf Gelsominas Perspektive einlässt, bleibt vieles jenseits ihres Horizonts auch für den Zuschauer vage. Ob nun ihre Eltern eigentlich politisch motivierte Aussteiger oder doch nur gesellschaftliche Verlierer sind, bleibt ebenso unklar wie die Rolle, die Mitbewohnerin Coco (Sabine Timoteo) in dieser Familie spielt. Mitunter stolpert die Erzählung dabei ein wenig ziellos vor sich her, was durch zu viele Konflikte, Personen und Handlungselemente noch verschärft wird. Aber der Originalität und Ungewöhnlichkeit, mit der Le meraviglie vermeintlich klassische Themen wie das Erwachsenwerden oder der Bedeutung von Tradition und Regionalität verhandelt, tut das kaum Abbruch.
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