Leviathan Russische Föderation 2014 – 141min.

Filmkritik

Automechaniker gegen Staat und Kirche

Filmkritik: Andrea Wildt

Erneut unterzieht der Russe Andrey Zvyagintsev sein Heimatland einer durchgreifenden Gesellschaftsanalyse. Diesmal eröffnet er uns deren Tiefen der Korruption anhand des Schicksals des Automechanikers Kolya, der sein Haus gegen gierige Politiker und die Kirche verteidigt. Die harte gesellschaftliche Realität taucht Zvyagintsev in poetische Bilder und transzendente Musik von Philip Glass. Leviathan gewann nicht nur in Cannes den Preis für das beste Drehbuch, er vertrat Russland 2015 auch als Oscar-Kandidat.

Was tut ein Mensch, wenn er alles verliert? Wenn ihm das Haus genommen wird, das er mit seinen eigenen Händen erbaut hat, seine Frau mit einem anderen Mann durchbrennt und er rechtswidrig ins Gefängnis muss. Andrey Zvyagintsev macht selten halbe Filme. Welches Thema er auch behandelt, er geht in die Vollen. Nachdem er in The Return die Rolle des Vaters infrage stellte, in The Banishment die absolute Liebe oder in Elena die soziale Ungerechtigkeit, hinterfragt er nun in Leviathan den Kampf für Freiheit und Gerechtigkeit. In Russland ein aussichtsloser Kampf.

Leviathan erzählt die Geschichte des Automechanikers Kolya (Alexey Serebryakov), der mit seiner zweiten Frau (Elena Lyadova) und seinem Sohn in einem idyllisch gelegenen Haus im Norden Russlands lebt. Der Bürgermeister Vadim (Roman Madyanov) trachtet nach Kolyas Besitz, denn er will genau an dieser Stelle eine Kirche errichten. Mithilfe eines befreundeten Anwalts aus Moskau versucht Kolya, die korrupten Machenschaften Vadims öffentlich zu machen. Dieser jedoch weiss sich zu helfen.

Kolyas Kampf gegen korrupte Politiker und die orthodoxe Kirche basiert auf einer wahren Begebenheit, die sich allerdings in Colorado abgespielt hat. In Leviathan nutzt Zvyagintsev die Tragödie, um den Wert von Freiheit in seinem Heimatland zu verhandeln. Meisterhaft übersetzt er den Antrieb seines Protagonisten, seiner Frau und des befreundeten Anwalts aus Moskaus in ausdrucksvolle Bilder. In kleinen unscheinbaren Aufnahmen und witzigen bis zutiefst melancholischen Szenen entsteht so Stück für Stück eine komplexe Geschichte über den Wert von Freiheit in einem unfreien Land. Die Musik von Philip Glass gibt diesem ungleichen Kampf eine transzendente Ebene. Sie stammt aus der Oper "Akhnaten", in der Glass 1983 das Verhältnis von Macht und Kirche erkundete.

So ästhetisch auch der Film sein Sujet zeigt, sein Bezug zu einer alltäglich realen Ungerechtigkeit in der russischen Gesellschaft ist offensichtlich. So deutlich sah man selten russische Realität auf der Leinwand, weniger noch aus der Hand eines russischen Künstlers. Die Melancholie mit der die Protagonisten ihr rechtloses Schicksal ertragen, schmerzt. Verzweiflung ist in Leviathan schon lange der Resignation und dem Tod gewichen. Rechtstaatlichkeit eine Utopie. Zvyagintsev lässt daran keinen Zweifel.

19.02.2024

4

Dein Film-Rating

Kommentare

Sie müssen sich zuerst einloggen um Kommentare zu verfassen.

Login & Registrierung

Barbarum

vor 8 Jahren

Parabel über Gier und Machtmissbrauch. Das ist schwere Kost, aber gerade deswegen lohnenswert.


8martin

vor 9 Jahren

Was der Leviathan für ein Fabelwesen ist, kann man googeln. Wie Regisseur Andrei Swjaginzew seinen Stoff unterfüttert, legt er zwar deutlich dar, ist aber nicht gleich für jeden nachvollziehbar. Um ihn voll und ganz zu verstehen sollte man allerdings das Buch Hiob, sowie die titelgebende Schrift von John Hobbes (um1600) kennen und mit Michael Kohlhaas vertraut sein. Aber auch ohne davon belastet zu sein, beeindruckt der Film ungemein. Eine Landschaft, die durch ihre weite Unendlichkeit, die Korruptionsaffäre in der Nähe des Polarkreises fast vergessen lässt. Nikolai (Alexej Serebrjakow) verliert alles, was er hat und am Ende auch seine Freiheit. Daran ist er nicht ganz unschuldig. Es liegt an seinem Jähzorn und am Wodka, vielleicht auch an seiner Dickköpfigkeit. Und weil es in der Sowjetunion spielt, haben alle Westler sofort mit dem Finger darauf hingedeutet, dass das ja da so üblich sei: der korrupte Bürgermeister Wadim (Roman Madjanow) macht den kleinen Nikolai und seinen Freund und Anwalt Dmitri (Wladimir Wdowitschenkow) mit seinen ‘Kettenhunden‘ durch Einschüchterung und brachiale Gewalt. einfach platt.
Die Idee zum Film kam Andrei Swjaginzew allerdings bei Dreharbeiten in den USA, wo sich eine ähnliche Geschichte ereignet hatte. Wohlgemerkt in Amerika!
Tatsächlich weitet sich der Machtkampf zu einem Familiendrama aus, das so auch unabhängig vom herrschenden politischen System überall geschehen kann. Und dieses zweite Standbein des Films ist ebenso stark wie das erste. Hier überzeugt am meisten Ehefrau Lilia (Jelena Ljadowa), die beide Problemkreise in ihrer Person verbindet. Eine großartige Dramaturgie, die eine gewisse Anlaufzeit braucht, vor eindrucksvoller Kulisse verdienen einen Oscar. Bemerkenswert ist, welche wichtigen Teile der Handlung nicht ins Bild kommen, lange offen bleiben und so Spannung erzeugen. Und die Kirche unterstützt die Machthaber.
Erschreckend die Reaktion von Kultusminister Wladimir Medinski, der den Film als russlandfeindliches Machwerk abtat und verbieten lassen will.Mehr anzeigen


barrito3

vor 9 Jahren

Den Film empfand ich insgesamt als langatmig und klischeehaft. Hätte mir einige neue Perspektiven zur Problematik gewünscht, wurde aber mit Fakten eingedeckt die eigentlich bekannt sind. Gefallen haben mir die gut in Szene gesetzten Bilder dieser etwas rauhen aber doch lieblichen Landschaft.Mehr anzeigen

Zuletzt geändert vor 6 Jahren


Mehr Filmkritiken

Typisch Emil

Hölde - Die stillen Helden vom Säntis

Tschugger - Der lätscht Fall

Sauvages - Tumult im Urwald