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Yaloms Cure Frankreich, Schweiz, USA 2014 – 77min.

Filmkritik

Reise zu den Menschen

Rolf Breiner
Filmkritik: Rolf Breiner

Der 83-jährige Irvin David Yalom ist ein Phänomen – Psychoanalytiker und Psychotherapeut, Denker und Schriftsteller. Er hat Menschen und ihren Problemen nachgespürt. Die Zürcherin Sabine Gisiger schuf ein Porträt, das weit über die Arbeit eines bedeutenden Psychiaters hinausgeht.

Ein Fluss, eine Skyline, ein Container. Ein Bild des Fliessens, Sinnbild fürs Leben. Das Wasser, das Ein- und Auftauchen, die Kraft der Wellen, dienen als Grund- und Zwischentöne im Dokumentarfilm der Zürcherin Sabine Gisiger. Der Psychiater und Autor Irvin David Yalom selber taucht im doppelten Sinn – in Meerestiefen und in menschliche Seelen. Dabei ist seiner Meinung nach eine wesentliche Voraussetzung seiner Arbeit die Selbsterkenntnis. "Wenn wir uns selbst nicht verstehen, können wir auch die anderen nicht verstehen oder schätzen."

Wie bei einem Puzzle setzt sich das Filmporträt zusammen – aus Archivaufnahmen beispielsweise aus den 30er-Jahren von Washington D.C. seinem Geburtsort, oder aus den 60ern vom John Hopkins Hospital in Baltimore. Yalom vertieft sich in psychoanalytische Theorien und kommt nach drei Jahren und 700 Stunden auf der Therapiecouch zur Erkenntnis, dass man Patienten nicht nur begleiten, beobachten und läutern, sondern sich an ihnen beteiligen und ihnen tiefe, menschliche Zuwendung widmen muss. Er ist einer der Vorkämpfer für Gruppentherapien, versteht sich als "Reisebegleiter", der eine Beziehung zum Patienten aufbaut. Sein Credo: "Wir sind alle Patienten." Yalom wird Professor an der Stanford University, Kalifornien, verfasst die Lehrbücher «Theorie und Praxis der Gruppentherapie» (1970) oder «Existentielle Psychotherapie» (1980). Er lebt in Kalifornien.

Nun erschöpft sich Gisigers Reise und Porträt nicht in psychoanalytischen Theorien und Sentenzen, in Lesungen, Sitzungen und Erzählungen über Patienten, sondern beschreibt auch Leben und Lieben des Mannes, der seit 60 Jahren mit Marilyn verheiratet ist und vier Kinder hat. Diese haben allesamt Scheidungen hinter sich, wundern sich und bewundern ihre Eltern und erkennen, dass sie selbst Karriere oder Kinder an erste Stelle hoben, nicht aber die Ehe wie ihre Eltern.

"Wenn man liebt und nicht einfach verliebt ist, versucht man so zu leben, dass man im Anderen immer wieder Neues zum Leben erweckt", ist Yalom überzeugt. Und so ist dieser Film auch ein einfühlsames erhellendes Beispiel für die zwischenmenschliche Beziehung zwischen Irvin und Marilyn, die als Professorin für französische Literatur tätig war und sich dann der Frauenforschung zuwandte. Nicht von ungefähr trägt Yalom's Cure (was so viel wie Yaloms Kur heisst) den Untertitel «Eine Anleitung zum Glücklichsein».

Mit viel Liebe und Zuneigung bringt uns Sabine Gisiger (Gambit) diese Persönlichkeit der Psychoanalyse näher und macht neugierig, beispielsweise auf seinen Roman "Und Nietzsche weinte" (1992), in dem die Russin Salomé und der Arzt Josef Breuer den Denker Friedich Nietzsche im Wien des Fin de siècle von seinen zerstörerischen Obsessionen heilen wollen. Lesenswert.

19.02.2024

4

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Kommentare

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soda4yoda

vor 9 Jahren

Faszinierend und absolut sehenswert, wenn man auf der Suche nach den Großen Fragen des Lebens ist. Ich hab mir auf alle Fälle vorgenommen den Psychiater und Philosophen Irvin Yalom intensiver zu studieren und mir schon mal zwei Bücher von ihm bestellt.


Celine_Door

vor 9 Jahren

das ist der interessanteste und klügste Film seit langem!!!


trandafir

vor 9 Jahren

"Die Erforschung der eigenen Tiefen führt immer zum Guten"- Irvin. D. Yalom


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