CH.FILM

Wild Plants Deutschland, Schweiz, USA 2016 – 108min.

Filmkritik

Der Rhythmus der Pflanzen

Andrea Lüthi
Filmkritik: Andrea Lüthi

Der deutsche Regisseur Nicolas Humbert (Step across the Border) porträtiert in seinem poetischen Dokumentarfilm Menschen mit einer tiefen Verbindung mit Pflanzen.

Sekundenlang blickt man auf den Wald in Schwarzweiss. Plötzlich neigt sich ein Baum – bis er schliesslich in Zeitlupe stürzt. Ein abgehackter Baumstumpf bleibt zurück. Zeigt dieser schmerzhaft intensive Prolog die Gewalt gegenüber der Natur, um das Nachfolgende umso stärker davon abzuheben? Der Film wechselt zu Farbe, es folgt ein poetisches Mosaik an Einstellungen: Sie zeigen die Schönheit von Naturphänomenen, die Harmonie zwischen Mensch und Umwelt. Ein Hund rennt über einen gefrorenen Bach, der Wind fegt dürre Blätter über den Schnee. Zwei Regenwürmer winden sich auf Händen, andere Hände umfassen einen Vogel oder graben in der Erde. Es bleibt dem Zuschauer frei, nur die Stimmungen aufzunehmen oder die Einstellungen zu einer Geschichte zu spinnen. Auch die Klänge der Natur spielen eine wichtige Rolle; sie sind verwebt mit sparsam eingesetzten musikalischen Klängen. Humbert lässt den Zuschauern Zeit, anzukommen.

Lange verweilt die Kamera auf Gesichtern in Nahaufnahme. Es sind die Gesichter der Menschen, die später porträtiert werden. Erst nach ungewöhnlich vielen Filmminuten spricht erstmals einer von ihnen. Ein junger Mann aus einem Gartenkollektiv in Genf nimmt auf, was auch im langsamen filmischen Rhythmus zum Ausdruck kommt: "Man kann von den Pflanzen lernen, langsamer zu werden", sagt er. Mehr noch, die Arbeit mit dem Kompost zeige ihm, dass nichts sterbe und alles nur im Wandel sei. "Es ist die einzige Möglichkeit, mit dem Kreislauf von Leben und Tod verbunden zu sein. Mir hilft der Gedanke, dass ich Teil davon bin." Das ist denn auch ein Kerngedanke des Films: Alle Porträtierten haben sich entschieden, näher bei und mit den Pflanzen zu leben. Das ist für sie kein Trend, sondern Teil ihrer Weltanschauung. Ein Selbstversorger-Paar in Detroit spürt wild wachsende Birnen auf und holt liegen gelassenes Holz vom Friedhof. Maurice Maggi setzt als Guerilla-Gärtner seit den 80er-Jahren Blumensamen in der Stadt Zürich aus, während der Lakota-Sioux und ehemalige Politaktivist Milo Yellow Hair den Menschen als Abbild der Welt betrachtet: Die Haut ist die Erde, das Blut das Wasser, der Atem der Wind.

Es ist etwas schade, dass man im Film kaum etwas über die Lebensumstände der porträtierten Menschen erfährt. Doch das ist Absicht: Die Lebensanschauungen und die Beziehung zu den Pflanzen stehen im Zentrum und machen alles andere zur Nebensache. Man kann Wild Plants als Aufruf betrachten, der Entfremdung von der Natur entgegenzuwirken. Vor allem aber liefert Humbert viele Denkanstösse zum respektvollen Umgang mit der Natur.

14.04.2024

4

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