Demain et tous les autres jours Frankreich 2017 – 91min.

Filmkritik

Ein Märchen zum Auftakt von Locarno

Filmkritik: Timo Posselt

Ein kleines Mädchen, ein Nachtvogel und eine verrückte Mutter berührten gestern im Eröffnungsfilm des 70. Locarno Filmfestivals das Publikum auf der gut gefüllten Piazza.

Ein Euler. So nennt man eine männliche Eule. Um einen solchen gruppiert sich auch die Geschichte des Eröffnungsfilms von Locarno „Démain et tous les autres jours“ von Noémie Lvovsky, der auf der Piazza Grande die 70. Ausgabe des Festivals einläutete.

Das 9-jährige Mädchen Mathilde (Luce Rodriguez) ist in der Schule eine Aussenseiterin, ihre Lehrerin attestiert ihr Schwierigkeiten, Freundinnen zu finden. Das scheint ihre Mutter (herrlich verwirrt verkörpert von der Regisseurin selbst) jedoch wenig zu kümmern. Stattdessen schenkt sie ihrer Tochter den genannten Nachtvogel. Dieser spricht, wenn sonst niemand dabei ist, mit Mathilde. In Abwesenheit des innig geliebten Vaters (Mathieu Amalric) versinkt die eh schon verschrobene Mutter Mathildes gleichzeitig immer mehr in ihre eigene Fantasiewelt. Im Gegensatz zu Mathildes Freundschaft zum Nachtvogel bleibt das bei der Mutter nicht unbestraft. Der Alltag kommt ihr abhanden. Mathilda muss dabei stetig mehr Verantwortung für ihre Mutter übernehmen.

Lvovsky erzählt das in einer unprätentiösen Bildsprache und verwendet immer wieder starke Motive aus dem Fundus von Grimms Märchen, dem Christen- wie dem Heidentum: Der genannte sprechende Euler, eine Hexe, eine Wasserleiche und ein Skelett, dessen Seele erst durch Beerdigung Ruhe findet. Dabei zeigt Lvovsky eine verspielte Liebe zum Detail die an den magischen Realismus eines Emir Kusturica denken lässt.

Während sich das Familiendrama weiter entspinnt, bleibt die Perspektive des Filmes stets die von Mathilde. Der Film kommt zu einem versöhnlichen Ende, das sich als feministisches Statement lesen lässt: Mutter und Tochter flüchten sich beide in Phantasiewelten. Während sie bei der Mutter zum Wahnsinn werden, schöpft die Tochter daraus Kraft. In der Schlussszene ist Mathilde eine junge Frau und ihre Mutter in der psychiatrischen Klinik. Trotz dieses Umstands feiern sie am Ende dieses zeitgenössischen Märchens vereint und versöhnt die (weibliche) Kraft ihrer Phantasie. Dabei hallt der Titelsong „Oh My Mama“ von Alela Diane noch lange nach.

So gelingt Demain et tous les autres jours der Balanceakt zwischen Tiefgang, künstlerischem Anspruch und der Nähe zum Publikum, den die Filme auf der Piazza im besten Falle meistern. Das Publikum reagierte mit warmem Applaus.

Der Autor ist Teil der Critics Academy des Locarno Festival 2017.

04.08.2017

4

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