Et au pire, on se mariera Kanada, Schweiz 2017 – 90min.
Filmkritik
Alles Liebe? Alles Lüge?
In Et au pire, on se mariera tastet sich Léa Pool sehr sorgfältig und mit viel Sympathie für all ihre Figuren ans Thema des vermuteten Missbrauchs heran – und stellt einen der seit Jahren erschütterndsten Mädchenfilme vor.
Girl meets Boy. Mädchen küsst Mädchen. Mann liebt Frau aber auch Mann. Vielleicht liebt der Boy auch das Girl und der Mann den Knaben: Sie ist verworren, weit und bunt, die Welt der Liebe. Sie ist dies insbesondere auch bei Léa Pool; seit ihren ersten Filmen – der zärtlichen Lesben-Romanze Anne Trister, der verlorenen Lovestory A corps perdu – spürt die Kanada-Schweizerin immer wieder sensibel und ohne Angst vor Tabus Liebes- und Gefühlswirren nach. So auch in Et au pire, on se mariera, in dessen Zentrum die 14-Jährige Aïcha steht – hervorragend, nämlich mit der stürmischen Kraft der Jugend, unschuldig-sexy und zugleich fragil gespielt von Sophie Nélisse.
Seit ihre Mutter Aïchas Stiefvater vor die Tür gesetzt hat, ist das Verhältnis zwischen ihnen angespannt. Etwas Ungeklärtes hängt in der Luft, eine Schuldfrage, die vielleicht bloss ein Missverständnis ist. Man müsste reden, streitet sich stattdessen. Aïcha fühlt sich verloren, ein bisschen haltlos auch. Anstatt nach der Schule brav ihre Hausaufgaben zu machen, stromert sie durchs Quartier. Schaut bei ihren „Freundinnen“, sich prostituierenden Transsexuellen vorbei, schnorrt vom Kioskbetreiber einen Schokoriegel, hängt auf dem Spielplatz herum. Hier wird sie eines Tages von einem Obdachlosen aufdringlich angemacht, von einem Passanten beschützt: Baz (Jean-Simon Leduc) ist sein Name, Aïcha verliebt sich auf den ersten Blick. Sie sieht in ihm ihren Retter. Einen Stiefvater-Ersatz, von Erotik träumend auch mehr als das und lässt nichts unversucht, Baz näher zu kommen. Baz aber, doppelt so alt wie sie, Musiker und locker drauf, sieht in Aïcha bloss so etwas wie eine kleine Schwester…
Pool zieht ihren Film vom Ende her auf: Mit der von der Arbeit kommenden Mutter, die zusehen muss, wie Aïcha auf offener Strasse verhaftet wird. Danach folgt Aïchas Befragung auf der Polizei, in Rückblenden wird splitterhaft erzählt, was schief lief, nicht nur jetzt, sondern schon früher. Pool spielt dabei souverän mit verschiedenen, auch sich verschiebenden Perspektiven, der sogenannten Wahrheit, die manchmal bloss eine Phantasie, ein Hirngespinst, gar eine dicke Lüge ist: Wer sieht schon in den gefühlswirren Kopf einer Jugendlichen? Et au pire, en se mariera ist heftig. Nicht nur weil Pool sich an das delikate Thema eines vermuteten Missbrauchs wagt, sondern weil es ihr in Anbetracht eines Verbrechens in faszinierender Weise gelingt, keine (Vor-)Urteile zu fällen und jede ihrer Figuren glaubhaft und sympathisch erscheinen zu lassen. Ein starker und wichtiger Film.
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