Zwischenwelten Schweiz 2019 – 87min.
Filmkritik
Das andere Wissen vom Heilen
Thomas Karrer spürt in seinem berückenden Dokumentarfilm Naturheilpraktikern aus dem Appenzell nach.
Wer oder was sind Geist- und Gebetsheiler? Wie funktioniert Naturheilkunst? Wie filmt man, was – für die Kamera, das menschliche Auge – nicht sichtbar ist? Ausgehend von diesen Fragen und zugleich getrieben von der eigenen Neugierde begibt sich Thomas Karrer auf eine Reise ins Appenzellische. Hier steht man alternativen Heilmethoden seit jeher liberal gegenüber, Appenzell Ausserrhoden kennt seit 1871 gar ein Gesetz, welches freie Heiltätigkeit explizit gestattet.
Bis heute finden sich in Appenzell zahllose Naturheiler. Ihre Adressen stehen oft nicht im Telefonbuch, doch sie sind gut vernetzt: Es gäbe, heisst es in Karrers Film, im Appenzell keine Familie, die nicht zumindest einen Gebetsheiler kenne, Appenzell Innerrhoden gar zählt mehr Naturheiler als Hausärzte.
Sie fertigen nach innerhalb der Familie weitergegebenen Rezepten ihre eigene Medizin: Salben, Tinkturen, Pillen, Pülverchen. Ihre in der Praxis angewandten Methoden sind so unterschiedlich wie vielfältig. Während der eine feinstoffliche Eingriffe am Energiekörper des Menschen vornimmt, setzt der andere auf die heilende Kraft seiner Hände.
Wo die eine Heilerin sich als hellsichtig bezeichnet und bei der Arbeit mit ihrem höheren Selbst verbindet, spricht die andere von sich selber als „weisse Hexe“ und erteilt als Medium Rat. Die meisten stehen, obwohl ihnen die Naturwissenschaften nicht fremd sind, in enger Verbindung zu einer höheren Macht. Was sie alle eint ist das Wissen, dass eine Krankheit immer geistige und physische Komponenten hat, und Heilung ein Weg ist, den ein Kranker gehen muss.
Obwohl Karrers Protagonisten genau beschreiben, was sie tun, und Karrer beim Praktizieren über ihre Schultern schauen lassen, bleibt nicht erklärbar, was beim Heilen geschieht. Und obwohl der Schweizerische Verband für natürliches Heilen (SVNH) Prüfungen abnimmt und Zertifikate ausstellt, ist man sich einig, dass Heilen eigentlich nicht lernbar, sondern eine Gabe ist.
Thomas Karrer hat seine Protagonisten in der Praxis beobachtet und seine Beobachtungen mit erklärenden Ausschnitten aus Interviews unterlegt. Untermalt von sphärischen Improvisationen (Noldi Alder, Ficht Tanner und Laura Scammacca) finden sich zwischen den einzelnen Begegnungen prächtige Makro- und Flugaufnahmen von nebelverhangenen Landschaften, Pflanzen, Stein, Wasser und Eis. Ein mit grosser Sorgfalt gefertigter Film, der in gelungener atmosphärischer Verdichtung seinerseits mysteriöse Zwischenwelten entstehen lässt.
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