The Whaler Boy Belgien, Polen, Russische Föderation 2020 – 93min.
Filmkritik
Liebe auf den ersten Klick
Ein Teenager, der am äussersten Zipfel Sibiriens wohnt, verliebt sich in eine amerikanisches Webcam-Girl und spielt mit dem Gedanken, seine unwirtliche Heimat zu verlassen. Aus dieser Grundidee entwickelt Spielfilmdebütant Philipp Yuryev ein eigenwilliges Drama über Einsamkeit, Sehnsucht nach Geborgenheit und die Suche nach dem richtigen Platz im Leben.
Auch wenn es «bloss» 86 Kilometer von der russischen Seite der Beringstrasse nach Alaska sind, scheinen zwischen dem kleinen Dorf, in dem Yuryevs Protagonist Leshka (Vladimir Onokhov) ein eher eintöniges Dasein als Walfänger fristet, und der Verlockung namens USA Welten zu liegen. Andererseits: Gerade das Internet ermöglicht es uns heutzutage, jeden nur erdenklichen Ort zu besuchen und eine Nähe zwischen zwei eigentlich nicht verbundenen Punkten herzustellen. «The Whaler Boy» unterstreicht diesen Gedanken bereits in der clever aufgebauten Eröffnungssequenz. Zunächst tauchen wir in ein amerikanisches Bordell ein, in dem eine junge Frau (Kristina Asmus) ihren Dienst als Webcam-Girl antritt. Nach dem Beginn ihrer Show zoomt die Kamera langsam zurück, bis wir die Umrisse eines Laptops sehen, um den sich in einer Hütte in Leskhas Heimatort mehrere Männer in Arbeitskleidung scharen. Die moderne Technik hat auch die Einöde der sibirischen Tundra erobert und entführt die Menschen in völlig fremde Umgebungen.
Leshka ist sofort fasziniert und glaubt, die aufreizenden Blicke und Gesten von HollySweet 999 würden allein ihm gelten. Kurzerhand fängt er an, Englisch zu lernen, und träumt davon, mit dem erotischen Model in Kontakt zu treten. Von Tag zu Tag wird seine Obsession grösser, bis ein folgenschwerer Zwischenfall mit seinem besten Kumpel Kolyan (Vladimir Lyubimtsev) Leshka zwingt, heimlich aufzubrechen.
Derart geradlinig, wie es der Handlungsabriss nahelegt, präsentiert sich «The Whaler Boy»nicht. Vielmehr weicht der auch für das Drehbuch verantwortliche Regisseur regelmässig vom Hauptkurs ab, um dem Publikum die spezielle Stimmung seines Schauplatzes nahezubringen. Ein gemeinschaftlicher Tanzabend hier. Eine kurze Montage da, die unterschiedliche Bewohner nach einem Stromausfall in ihren Häusern bei Kerzenlicht zeigt. Und offenbar authentische Bilder, in denen die Arbeit der Walfänger dargestellt wird. Letzteres sorgt für handfeste Irritationen, zumal Yuryev das blutigen Treiben eher nüchtern dokumentiert, anstatt es kritisch zu hinterfragen.
Der Eindruck, am Ende der Welt angelangt zu sein, verfestigt sich, weil die manchmal mitten ins Getümmel eindringende, dabei wild umherwirbelnde Kamera mehrfach auch aus grosser Entfernung auf die schroffe, leere Landschaft und die darin winzig kleine Hauptfigur blickt. Das Spiel mit Nähe und Distanz zieht sich wie ein roter Faden durch den Film, der Leshkas Verlangen nach einem Ausbruch aus seinem wenig abwechslungsreichen Alltag kontinuierlich stärker werden lässt. Interessant ist allerdings, dass sich «The Whaler Boy» durch eine Prise Situationskomik davor bewahrt, in bleierner Schwere zu versinken. Als Running Gag fungiert Leshkas Grossvater (Nikolay Tatato), der seinen Tod ständig falsch vorhersagt.
Wundern muss man sich über die Naivität des jungen Walfängers, der sich Hals über Kopf in HollySweet 999 verknallt und nicht durchschaut, dass es ihr Job ist, eine verführerische Show abzuliefern und möglichst viele Männer zu becircen. Der Punkt, an dem die Geschichte ins Dramatische kippt, wirkt etwas konstruiert. Und die anschliessende Odyssee läuft auf eine nicht sehr überraschende, einfache Botschaft hinaus. Weil der Filmnewcomer Vladimir Onokhov aber mit Inbrunst gegen die nicht übermässig nuancierte Zeichnung seiner Figur anspielt und man sich nach wie vor von der rauen Natur überwältigen lassen kann, bleibt die Aufmerksamkeit bis zum Ende erhalten. Der souveräne Umgang mit den Gestaltungsmitteln des Kinos und das Gespür für das abgebildete Milieu wecken definitiv die Neugier auf Yuryevs nächste Arbeit.
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Kommentare
Habe noch die klassischen Zettelkasten, darunter eine Rubrik "Cetologie". Hier hat der Film einiges zu zeigen - gegen Schluss einen Walfriedhof, fast als Metapher...
Kippt der Film am Endt ins Surreale? Oder hat uns der Amerikanische Zollbeamte in die Irre geführt - samt dem Protagonisten?… Mehr anzeigen
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