L'Événement Frankreich 2021 – 100min.

Filmkritik

Illegale Abtreibung

Filmkritik: Teresa Vena

Er erschütterte das Filmfestival von Venedig in diesem Sommer. Der zweite Spielfilm der französischen Regisseurin Audrey Diwan gewann am 11. September den Goldenen Löwen. Als radikaler Film behandelt «L'Évènement» unverblühmteine illegale Abtreibung im Frankreich der 60-er Jahre.

Anne (Anamaria Vartolomei) ist eine brillante Studentin der Literaturwissenschaft. Ihre ehrgeizigen Ziele werden jäh gestoppt, als sie erfährt, dass sie schwanger ist. Sie will die Schwangerschaft nicht fortsetzen, da dies all ihre Lebenspläne gefährden würde und wünscht sich eine Abtreibung. Da das Gesetz zur Entkriminalisierung der Abtreibung noch nicht in Kraft getreten ist und ihr niemand die Unterstützung und Hilfe bietet, die sie so dringend benötigt, ist die junge Frau gezwungen, sich in den Untergrund zu begeben. Ein chaotischer und schmerzhafter Weg zur Abtreibung. Ein lebensgefährlicher Weg, um ihre Freiheit wiederzuerlangen, um ihren freien Willen geltend zu machen und über ihren Körper so zu bestimmen, wie sie es für richtig hält.

«Ich habe diesen Film mit Wut gemacht. Ich habe diesen Film mit Lust gemacht. Ich habe ihn mit meinem Bauch, meinen Innereien, meinem Herzen und meinem Kopf gemacht», sagte Audrey Diwan bei der Preisverleihung der Filmfestspiele von Venedig im vergangenen September bewegt. Wenn man sich den Film ansieht, geht er tatsächlich in den Bauch und in die Innereien. Es ist erschreckend, dass sich in diesen 60 Jahren nichts wirklich verändert hat. «L'Évènement» spielt zwar in den 1960-er Jahren, bevor 1975 das Veil-Gesetz eingeführt wurde. Erinnert aber daran, wie sehr Frauen und ihre Körper nach wie vor nicht Sache individueller Entscheidungen, sondern freiheitsberaubender politischer Entscheidungen sind. Während die Thematik des freiwilligen Schwangerschaftsabbruchs immer wieder die Aktualität nährt, inspiriert sie ebenfalls das Kino. Der Film «L’Évènement» setzt die notwendigen Bemühungen von kürzlich gesehenen Filmen fort, wie «Never Rarely Sometimes Always» oder Dokumentarfilmen wie «Que Sea Ley», der sich mit dem Recht auf Abtreibung in Argentinien befasst.

Nach dem gleichnamigen autobiografischen Roman von Annie Ernaux aus dem Jahr 2000 gibt «L’Évènement» einen eindringlichen Einblick in den Lebensweg der jungen Studentin Anne, die ihre Entscheidungsfreiheit einfordert. Sie wird von der rumänisch-französischen Schauspielerin Anamaria Vartolomei verkörpert, die uns mit einer aussergewöhnlichen Leistung beglückt. Der Spielfilm ist im quadratischen Format 1.37 gedreht, das eine intensive, manchmal verstörende Nähe zur Hauptfigur ermöglicht. Er behandelt nicht nur die Abtreibung als solche, sondern beleuchtet auch die weibliche Sexualität und das weibliche Begehren in einer Zeit, in der Frauen als reine Fortpflanzungsmittel betrachtet wurden.

Mit Kacey Mottet-Klein, Luàna Bajrami, Sandrine Bonnaire, Anna Mouglalis und Pio Marmaï in der Besetzung ist «L’Évènement» ein erschütternder und verstörender Film, extrem und schmerzhaft in dem, was er erzählt, und radikal in seiner Inszenierung. Mit Sensibilität und Brutalität schildert Audrey Diwan die traurige und erbärmliche Realität von Frauen, die gezwungen waren und leider immer noch sind, ihr Leben zu riskieren, um ihren freien Willen und das Recht zu verteidigen, über ihren Körper selber zu bestimmen.

Der Film ist ein schmerzhafter Nachhall der ultra-restriktiven Gesetze, die vor nicht allzu langer Zeit verabschiedet wurden, wie z. B. in Texas. Er hält allen Frauen einen Spiegel vor, in dem sie sich wieder erkennen können. «Lasst uns nicht Anne anschauen, sondern Anne sein», wünschte sich die Regisseurin, als sie ihren Film vorbereitete. Das Ziel ist ihr gelungen, denn in Wahrheit ist Anne alle Frauen auf einmal: Die von gestern, von heute und von morgen.

Übersetzung aus dem Französischen von Emma Raposo durch Alejandro Manjon

07.03.2022

4.5

Dein Film-Rating

Kommentare

Sie müssen sich zuerst einloggen um Kommentare zu verfassen.

Login & Registrierung

Mehr Filmkritiken

Typisch Emil

Tschugger - Der lätscht Fall

Hölde - Die stillen Helden vom Säntis

Landesverräter