The Reason I Jump Grossbritannien, USA 2020 – 82min.

Filmkritik

Die Welt durch die Augen eines Autisten

Björn Schneider
Filmkritik: Björn Schneider

Die beachtenswerte Doku «The Reason I Jump» erforscht die Sinneswahrnehmung und Empfindungen autistisch erkrankter Jugendlicher. Sie gibt Menschen eine Stimme, die auf ihre ganz eigene Art mit der Welt kommunizieren.

2007 sorgte der damals 15-jährige Japaner Naoki Higashida mit seinem Buch „The Reason I Jump“ für Furore. Darin schildert er, wie er als autistische Person die Welt um sich herum wahrnimmt. Naoki leidet seit seinem fünften Lebensjahr unter nonverbalem Autismus, einer tiefgreifenden Entwicklungsstörung, die dafür sorgt, dass die Erkrankten nicht sprechen können. «The Reason I Jump» von Jerry Rothwell widmet sich ganz der Erfahrungswelt von Naoki und anderen Autisten.

Seit über 15 Jahren dreht der Brite Jerry Rothwell (mehrfach prämierte) Dokumentationen zu sozial und politisch relevanten Themen. «The Reason I Jump»reiht sich ein in diese Liste, da sie das Bewusstsein für eine hochkomplexe Erkrankung und die Betroffenen dahinter stärkt.

Die erzählerische Basis bildet Naokis Buch, aus dem Rothwell entscheidende Passagen vortragen lässt und sie mit den Geschichten von fünf anderen Teenagern verwebt. Die meisten von ihnen leiden, wie Naoki, an nonverbalem Autismus. Anhand ausgewählter Stellen aus dem Buch versteht man besser, wie Menschen wie Naoki und die anderen Protagonisten die Welt und das Leben verstehen. Eindringlich schildert er etwa seine Probleme im Umgang und Verständnis von Zeit und Erinnerung. Oder die alltäglichen Herausforderungen, sich seinen Mitmenschen gegenüber mitzuteilen.

Rothwell besucht die hochintelligenten Jugendlichen, die überall auf der Welt zu Hause sind (Sierra Leone, Indien, USA u.a.) und präsentiert Auszüge aus ihrem Alltag. Auf diese Weise ebenso wie durch die Interviewpassagen der Eltern erhält der Zuschauer einen intensiven, aufschlussreichen Einblick in das Leben der Porträtierten – und in die gesellschaftlichen Betrachtungen dieser Krankheit in den jeweiligen Ländern.

Denn der Umgang damit ebenso wie etwa die Qualität der Bildungsangebote variieren bisweilen stark. So radikal wie im afrikanischen Sierra Leone, in dem man Autisten als von Dämonen Besessene betrachtet, ist die Situation andernorts zum Glück nur selten. Alle Beispiele aber verdeutlichen eindrucksvoll: Durch Ängste und Vorurteile wird den Betroffenen die Teilhabe an der Gesellschaft unnötig erschwert (Stichwort: unzureichende Inklusion).

Und auch auf visueller Ebene findet Rothwell einen Zugang zu seinen Porträtierten sowie gelungene Entsprechungen für deren Sinneswahrnehmungen. Durch schnelle Schnitte und hektische Kamerabewegungen verdeutlicht er die Reizüberflutung und das Chaos an Eindrücken. Hinzu kommt ein experimenteller, einfallsreicher Einsatz von Soundeffekten und Tönen, der diesen Eindruck nochmals verstärkt.

06.04.2022

5

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Kommentare

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Tianovic

vor 2 Jahren

Ein Dokumentarfilm über das Leben, wenn man nicht sprechen kann.
Ich erinnere mich an die erste Zeit nach dem Koma. Ich konnte reden, nur stimmlos den Mund bewegen. Ich konnte nichts schreiben, den meine Hände waren kraftlos. Man gab mir eine Tafel mit Buchstaben von A bis Z, ohne Abstand musste ich schreiben, was ich sagen wollte. Dies war anstrengend und ich hatte auch keine Kraft dazu.
Als ich nun den Film, war ich beeindruckt, wie Menschen ohne stimme leben können. Ohne Stimme zu leben kann man, es ist einfacher schwerer die Hindernisse zu bewältigen.Mehr anzeigen


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