Titane Belgien, Frankreich 2021 – 108min.
Filmkritik
Unerwartet ergreifend
Schon mit ihrem Debütwerk, dem blutigen Coming-of-Age-Horrordrama «Grave», forderte die französische Regisseurin und Drehbuchautorin Julia Ducournau die Zuschauer heraus. Auch ihr neuer Streich «Titane», der in Cannes überraschend mit der Goldenen Palme ausgezeichnet wurde, ist ein wildes, unberechenbares, den guten Geschmack angreifendes Erlebnis, das allerdings mit der Zeit einen bewegenden Kern preisgibt.
Sex mit – nicht bloss in! – einem Auto und eine daraus resultierende Schwangerschaft sind nur zwei der vielen bizarren Elemente, die Ducournau in ihre zweite Leinwandarbeit einbaut. Wer für derartige Ideen rein gar nichts übrig hat, dürfte «Titane» schnell als grossen Schwachsinn abtun. Und doch: Es lohnt sich, dem Film eine Chance zu geben, sich auf die exzentrischen Details der Geschichte einzulassen, deren Verlauf – das dürfte auch der schärfste Kritiker nicht bestreiten können – nur schwer vorauszuahnen ist.
Alles beginnt mit einem folgenreichen Autounfall, an dem die kleine Alexia (Adèle Guigue) eine Mitschuld trägt. Das Mädchen überlebt, bekommt aber eine Titanplatte in ihren Schädel eingepflanzt, die sich fortan hinter einer dicken Narbe über ihrem rechten Ohr verbirgt. Ein merkwürdiges, erotisch aufgeladenes Verhalten gegenüber Fahrzeugen legt Alexia bereits kurz nach dem Unglück an den Tag und hat dieses auch im Erwachsenenalter (nun verkörpert von der aufregenden Newcomerin Agathe Rousselle) nicht abgestreift. Nachdem die als Tänzerin in einer Fahrzeugshow arbeitende junge Frau einen aufdringlichen Fan getötet hat, kommt es zum eingangs erwähnten Liebesspiel mit einem Ausstellungswagen, das Alexias Bauch nur wenig später wachsen lässt.
Dass der noch immer bei ihren Eltern (Céline Carrère und Filmemacher Bertrand Bonello) lebenden Protagonistin schon zuvor Menschen zum Opfer gefallen sind, deutet Ducournau sehr früh an. Ihr Problem mit zu viel Nähe malt die Regisseurin dann aber in einer unerschrocken zwischen gegensätzlichen Tonlagen pendelnden Mordszene aus. Handfeste Verstörung trifft hier auf absurde Situationskomik. Ein gewagter Mix, der komplett hätte scheitern können, in diesem Fall jedoch seine Wirkung nicht verfehlt. In «Titane» ist alles möglich, begreift man spätestens zu diesem Zeitpunkt, der einen Richtungswechsel in der Handlung markiert.
Weil eine Anwesende Alexia entkommen konnte, sieht sich die Killerin zur Flucht gezwungen und nimmt dabei Risiken in Kauf. Ihren Bauch schnürt sie mit Klebeband ab, und ihre Haare werden radikal gekürzt, um als ein gewisser Adrien posieren zu können, der im Kindesalter spurlos verschwand. Vincent (Vincent Lindon), der Vater des Vermissten, ein muskelbepackter Feuerwehrchef, staunt nicht schlecht über das plötzlich Auftauchen seines «Sohnes» und nimmt die verkleidete Alexia ohne Zögern bei sich auf.
Durch seine Body-Horror-Einlagen provoziert «Titane» fast zwangsläufig Vergleiche mit dem Schaffen David Cronenbergs, wobei der Autoaspekt besonders an dessen Romanverfilmung «Crash» erinnert, die eine Clique von Unfallfetischisten erforscht. Ganz bewusst spielt Ducournau mit derartigen Assoziationen. Ihr stilistisch selbstbewusster, Licht und Dunkelheit geschickt einsetzender, eine entrückte Stimmung entfaltender Cannes-Gewinner erschöpft sich allerdings nicht in blossem Zitaten. Die logische Massstäbe konsequent unterlaufende Geschichte regt vielmehr zum Nachdenken über starre Geschlechterrollen an, legt voyeuristische Strukturen frei und zieht aus einer höchst ungewöhnlichen, mitunter stark irritierenden Beziehung ein unerwartetes Mass an emotionaler Wucht. Auch eine offensichtliche Lüge kann, so zeigt es der Film, Halt und Trost spenden. Einige thematische Überlegungen kommen in «Titane» bestimmt etwas zu kurz. Der Regisseurin kann man aber definitiv nicht vorwerfen, dass sie stumpf einem Schema folge und den Betrachter gleichgültig zurücklasse. Alexias und Vincents Annäherung wühlt auf. Auch dank Rousselles und Lindons aufopferungsvollen, körperlichen Darbietungen.
Kurzkritik von Patrick HeidmannEine junge Tänzerin mit Aggressionsproblem und Auto-Fetisch (enigmatisch: AgatheRousselle) wird zur Serienkillerin und findet irgendwann bei einem verzweifelten Feuerwehrmann unter, der sie für seinen vermissten Sohn hält. In den Händen von Julia Ducorunau wird daraus wieder eine aufregend-wilde Mischung von Genre-Elementen, inklusive viel Sex und Gewalt, aber auch viel Zärtlichkeit und einem dezidiert weibliche Blick auf Körperlichkeit und Männlichkeitsrituale. Ein ebenso ungewöhnlicher wie verdienter Palmen-Gewinner!
Kurzkritik von Patrick HeidmannEine junge Tänzerin mit Aggressionsproblem und Auto-Fetisch (enigmatisch: Agathe Rousselle) wird zur Serienkillerin und findet irgendwann bei einem verzweifelten Feuerwehrmann unter, der sie für seinen vermissten Sohn hält. In den Händen von Julia Ducorunau wird daraus wieder eine aufregend-wilde Mischung von Genre-Elementen, inklusive viel Sex und Gewalt, aber auch viel Zärtlichkeit und einem dezidiert weibliche Blick auf Körperlichkeit und Männlichkeitsrituale. Ein ebenso ungewöhnlicher wie verdienter Palmen-Gewinner!
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Kommentare
„Titane“ ist ein provokatives, chaotisches Stück Kino, stilvoll in seiner Stillosigkeit, entzieht sich jedem Genre und jeder Form der schlüssigen Rekapitulation. Aber die brutale Intensität des Anfangs scheint immer weniger zu wissen, wohin sie will und verläuft sich in Stagnation.
Julia Docournau gelingt mit ihrem Genremix „Titane“ definitiv ein Unikat, der absolut nicht für jeden gemacht ist. Die abgefuckte Geschichte rund um Mensch-Maschinen-Hybride und blutigen Mordserien schockiert, provoziert und nimmt keine Rücksicht auf den Verlust unvorbereiteter Zuschauer. Der Film zerfällt in zwei Teile, dessen Parts jeder für sich überzeugen, jedoch bleibt der emotionale Punch am Ende aus.… Mehr anzeigen
Zuletzt geändert vor 3 Jahren
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