Foudre Schweiz 2022 – 92min.
Filmkritik
Sich selbst überlassen
«Foudre» wurde in Zürich, Marrakesch und Solothurn ausgezeichnet und erhielt zwei Preise beim letzten Schweizer Filmpreis. Es ist der erste Spielfilm von Carmen Jaquier, nachdem sie ein halbes Dutzend Kurzfilme gedreht hat. Trotz der für Erstlingsfilme typischen Ungeschicklichkeiten entführen uns die Kameraarbeit und das Schauspiel seiner Hauptdarstellerin Lilith Grasmung in ein Wallis zu einer Zeit, als die Frauen den Weg ihrer Emanzipation allein beschreiten mussten.
Im Oberwallis um die Wende zum 20. Jahrhundert kehrt die 17-jährige Elisabeth (Lilith Grasmug) nach fünf Jahren im Kloster zu ihrer Familie zurück. Ihre Schwester Innocente ist plötzlich verstorben und es ist nun an Elisabeth, die Rolle der Ältesten zu übernehmen. Doch die totgeschwiegenen Umstände des Todes und die Unterdrückung, der die Jugendliche und ihre jüngeren Schwestern ausgesetzt sind, veranlassen Elisabeth dazu, ihre eigene Wahrheit zu erforschen. Zusammen mit drei jungen Einheimischen lässt sie ihren Wünschen freien Lauf und probiert die wilde Freiheit aus.
In den Bergen der Südschweiz ist die Stille König, Gott ist in aller Munde und der Teufel droht, die Kinder bei kleinsten Fehltritten zu holen. Ein mit Tinte beflecktes Notizbuch und eine Ikone aus Stoff sind die einzigen Erinnerungen, die Elisabeth an ihre Schwester findet, die von da an eine Verbindung zwischen ihnen bilden: So wird eine Parallele zwischen der Figur und Carmen Jaquier gezogen, die von ihrer Ahnin dazu inspiriert wurde, diese Geschichte neu zu schreiben.
Geschichten über das Erwachsenwerden gibt es im Kino zuhauf, aber nur wenige haben sich wie «Foudre» derart romantisch, auf der Suche nach Authentizität und modernen Bildern mit der Initiationssuche junger Schweizer Mädchen im letzten Jahrhundert befasst. Die Filmemacherin nennt zwar Pasolini als Inspiration, aber es gibt auch Anklänge an «Das Piano» (1993), mit der Bedeutung der Musik und der Einsamkeit einer Frau, oder an «Porträt einer jungen Frau in Flammen» (2019) mit seiner Chorszene am Feuer.
Schon in der Einleitung bekennt sich «Foudre» zur freien Interpretation einer persönlichen, aber auch nationalen Geschichte. Die Kamera von Marine Atlan und die Musik von Nicolas Rabaeus verleihen den Aufnahmen mit ihren gesättigten, abgegriffenen und überhöhten Farben, dem Laub im Vordergrund und der digitalen Kamera, wenn die poetischen Einträge aus Innocentes Notizbuch vorgelesen werden, eine gewisse Stofflichkeit. Das Drehbuch wird zugunsten eines eher sinnlichen, ja sogar fantastischen Sehvergnügens mit seinen violetten Dunkelheiten, aus denen maskierte Gesichter auftauchen, vernachlässigt.
Eine Kapelle im Wald, gegenseitige Berührungen zwischen vier Jugendlichen und das Versprechen einer gemeinsamen Zukunft fernab der Erwachsenen - all diese Motive vereint Carmen Jaquier in ihrem gelungenen ersten Film über das Erwachen der Sexualität.
Übersetzung aus dem Französischen durch Maria Engler
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Kommentare
Religion und / vs Sex:
Die Mystik sieht Verbindungen, die Bigotterie Gegensätze...
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