Il colibrì Frankreich, Italien 2022 – 126min.

Filmkritik

Der Flügelschlag des Kolibris

Filmkritik: Laurine Chiarini

In weiten Kamerafahrten werden die geräumigen Innenräume zweier benachbarter Häuser an der italienischen Riviera gezeigt. Der junge Marco, der in seine französische Nachbarin Luisa verliebt ist, trifft sich heimlich mit ihr – «wie Romeo und Julia», wie er lachend erklärt. Das Schicksal der beiden verläuft kurvenreich und erstreckt sich über mehrere Jahrzehnte, Marcos ganzes Leben, in dem es immer wieder zu Wiederbegegnungen, Lügen und Entdeckungen kommt. Die Montage, die zwischen den Epochen wechselt, ist anfangs kompliziert, nimmt aber im Laufe des Films an Fahrt auf.

Der Film erzählt das Leben des italienischen Arztes Marco Carrera, dessen Leben von Liebe, aber auch von Tragödien geprägt war, von seiner Jugend bis zu seinem Tod. Die italienisch-französische Koproduktion der Regisseurin Francesca Archibugi, die auf dem gleichnamigen Buch basiert, ist anspruchsvoll, aber lohnenswert und schafft es auf elegante Weise, die Wendungen eines Lebens in weniger als zwei Stunden zu erzählen.

Das Rückgrat des Films sind die Texte. Der Dialog zwischen dem Psychiater Daniele Carradori, der von Nanni Moretti gespielt wird, und Marco Carrera, dem Ehemann der Patientin des Psychiaters, um den sich der Arzt Sorgen macht, wirkt wie eine intensive Partitur. Die Regisseurin Francesca Archibugi ist eine Meisterin der Gefühle und adaptiert mit Bravour den Roman von Sandro Veronesi, der eine Abfolge von Dramen, Zufällen, Liebe und Trauer beschreibt.

Das Licht ist ein beständiges Element, das die Einheit über die Zeiten hinweg bewahrt. Die Geschichte bewegt sich zwischen den 1970er-Jahren und der Gegenwart, doch nur unscheinbare Details in der Umgebung ermöglichen eine zeitliche Einordnung. Von warmen Sommerabenden auf den Strassen unter Freunden bis hin zu einer Szene mit Glücksspielen für ausgewählte Gäste in einem kerzenbeleuchteten Schloss scheint ein Hauch Fellini flüchtig über einigen Momenten zu schweben. Was ist ein Zufall? Kann der Mensch Herr seines eigenen Schicksals sein? Kann die Romantik ihn retten?

Der Kolibri, ein sehr intelligenter Vogel, steht in der Luft und schlägt etwa 60 Mal pro Sekunde mit den Flügeln. Das wirft Luisa ihrer Jugendliebe Marco zum Teil vor, der, wie sie sagt, alles getan hat, um an Ort und Stelle zu bleiben. Doch Marco zieht seine Stärke aus seinem Zuhause, das viel mehr von innen als von den Mauern, die es umgeben, geprägt ist. Wenn der Erfolg eines Lebens an der Anzahl der Menschen gemessen wird, die am Sterbebett eines geliebten Menschen stehen, wäre Marcos Leben ein voller Erfolg. Durchsetzt mit dramatischen Geschichten, verstrickt sich die Erzählung nie in ihnen, sondern behält eine Leichtigkeit, manchmal auch eine Komik, die diesen Film zu einem echten Erfolg machen.

05.09.2023

4

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Kommentare

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thomasmarkus

vor einem Jahr

Hab mir den Film ohne jegliches Vorwissen angeschaut.
Brauchte anfänglich echt Konzentration, zu folgen.
Als roter Faden klingelt unbekannte Nummer:
Fast so, wie das Leben Unbekanntes birgt, Überraschungen, Schlaufen, Tragödien.
Eindrücklich auch die verschiedenen Lebensalter des Protagonisten...Mehr anzeigen


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