Les Pires Frankreich 2022 – 99min.

Filmkritik

Filmtheorie oder Lebenspraxis

Filmkritik: Kevin Pereira

«Les pires» wurde bei den letzten Filmfestspielen von Cannes in der Sektion Un certain regard ausgezeichnet und beruht auf einer Erzählung, die ihre eigene Entstehung in den Fokus nimmt. Die Originalität des Films, die ihm seine ganze Kraft verleiht, liegt weniger in seiner Erzählstruktur als in der Idee des Kinos, die er aufruft: Das Wesentliche ist nicht so sehr das, was sich vor der Kamera abspielt, sondern das, was hinter ihr geschieht.

In Nordfrankreich werden in der Cité Picasso, einem als schwierig geltenden Stadtteil von Boulogne-sur-Mer, Dreharbeiten vorbereitet. Vom ungezwungenen Casting bis zum Dreh konzentriert sich der Film von Lise Akoka und Romane Gueret auf den Werdegang von vier Jugendlichen - Lily, Jessy, Ryan und Maylis. Nach Meinung der anderen in der Nachbarschaft sind sie die Schlimmsten.

Um es gleich vorweg zu sagen: «Les pires» ist ein grosser Film. Er ist ein grosser Film, weil er eben viel verwickelter ist als eine einfache Spiegelung der Geschichte, ein Film im Film. Genauer gesagt ist er vielleicht sogar das genaue Gegenteil: ein Nicht-Film im Film. Um es salopp zu beschreiben: Die Regisseurinnen interessieren sich weniger für die Dreharbeiten, die seine Erzählung strukturieren, sondern für die äusserst heiklen Fragen, die ihr Ansatz aufwirft, ein einzigartiger Prozess, der irgendwo zwischen ethnologischer Einmischung und wissenschaftlicher Selbstkritik angesiedelt ist.

Diese Fragen, von denen es sicherlich zu viele gibt, um sie alle zu beantworten, konkretisieren sich in einer Szene, die dem Film seinen Namen gibt. Während Judith, eine Assistentin des Regisseurs, mit einigen Sozialpädagoginnen die Entstehung einer Schlüsselsequenz feiert, werfen diese dem Film vor, sich auf Picassos «Les pires» zu konzentrieren, sein «schlechtes Saatgut», seine «Schläger», deren Darstellung ein stigmatisierendes Bild des Viertels verfestigen würde. Die Frage ist komplex – und man hat, übrigens zu Recht, den Filmen über Problemviertel oft vorgeworfen, dass sie sich diesen Gebieten mit einem Tunnelblick auf das Elend nähern.

Der Ansatz der Regisseurinnen ist wohltuend: Sie lösen dieses Problem, indem sie sich bemühen, die Personen, die sie filmen, so weit wie möglich zu individualisieren. Ob Ryan oder Lily, Maylis oder Jessy: Ihre Gesichter werden in Grossaufnahme gezeigt und ihre persönliche Geschichte mit allen Facetten herausgearbeitet. Von da an wird das Stereotyp brüchig, schwankt und implodiert in einer zutiefst humanistischen Klarheit, die diese Bilder, von denen man oft sagt, sie wären starr, bis zum Äussersten aufbricht. Auf diese Weise werden diese Bilder auf diejenigen zurückgeworfen, die gegen das Klischee wettern, und werden letztlich zum Bekenntnis eines neuen sozialen Kinos, das sich seiner eigenen Grenzen bewusst ist.

Übersetzung aus dem Französischen durch Maria Engler

15.05.2023

4

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Kommentare

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thomasmarkus

vor einem Jahr

Wenn von der Fassade der Lack ab ist, zeigt sich, was trägt:
Grosses Kino an kleinem Schauplatz, grosse Gefühle jenseits von Glamour.


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