Simone Veil - Ein Leben für Europa Belgien, Frankreich 2021 – 141min.
Filmkritik
Das Erbe der Gerechtigkeit
Der Regisseur Olivier Dahan zeichnet das Porträt einer engagierten Frau mit Prinzipien und erzählt von ihrer Kindheit, ihrer Deportation nach Auschwitz, ihren politischen Kämpfen und ihren letzten Lebensjahren. Der von Elsa Zilberstein getragene Film schafft es, in etwas mehr als zwei Stunden die vielen Facetten eines aussergewöhnlichen Schicksals zu erzählen.
Simone Veil war eine Person des öffentlichen Lebens, die für ihr Engagement für das Recht der Frauen auf Abtreibung und ihre Zeit in Konzentrationslagern bekannt ist, aber sie war auch eine Frau vieler anderer Kämpfe. Ihr Engagement ist noch immer von brennender Aktualität und hat ein Jahrhundert überdauert, das sich in einem tiefgreifenden Wandel befand.
"Ich studierte jede ihrer Gesten, jeden Fehler, jeden Atemzug; ich wollte sie von innen heraus verstehen". Elsa Zilberstein brauchte ein Jahr Vorbereitung und mehrere Stimmtrainer, bevor sie in die Rolle der Akademikerin schlüpfen konnte. Obwohl der Schauspielerin seit mehreren Jahren ein Filmprojekt im Kopf herumschwirrte, hatte sie es nie gewagt, Simone Veil, die sie mehrmals traf, zu ihren Lebzeiten darauf anzusprechen. Von der markanten Sprechweise einer Stimme, die sich vor einer vorwiegend männlichen Versammlung Gehör verschaffen musste und oft gequält wurde, bis hin zu dem Gang, der durch das Gewicht der Jahre schwerer wird, ist die körperliche Verwandlung überzeugend.
Nach Filmen über Edith Piaf und Grace Kelly wagt sich Olivier Dahan an ein drittes Biopic über eine bedeutende Frau. Die Entscheidung, welche Aspekte ihres Lebens in den Vordergrund gerückt werden sollten, war sicher nicht einfach, da ihre Geschichte so vielfältig ist. Die ausgewogene und flüssige Erzählung navigiert zwischen den Lebensabschnitten von Simone Jacob, der späteren Veil, ohne das Publikum zu verwirren. Wenn sich der Ton auf dem Podium verschärft, wird die Kamera unruhig. Vor schwarzem Hintergrund prasseln die Gegenargumente auf den Zuschauer ein, die sich manchmal in hasserfüllte Beleidigungen verwandeln. Wie bei den Hiroshima-Überlebenden gab es eine Zeit, in der die Holocaust-Überlebenden als «Dorn im Auge der Gesellschaft» stigmatisiert wurden.
Zu den stärksten Szenen des Films gehören jene, in denen Simones Stimme über Landschaftsaufnahmen aus dem Zug hinweg von ihrem Martyrium der Deportation erzählt. Abgesehen von dem monumentalen Dokumentarfilm «Shoah», der ausschliesslich aus Zeugenaussagen besteht, die Claude Lanzmann über einen Zeitraum von elf Jahren gefilmt hat, ohne auf Archivmaterial zurückzugreifen, sind solche Erinnerungen immer dann am stärksten, wenn sie von denjenigen erzählt werden, die sie selbst erlebt haben, anstatt sie zu rekonstruieren. Während die letzten Zeugen des Holocausts allmählich verschwinden, bleibt die Bedeutung der Erinnerung mehr denn je aktuell.
1975 setzte Simone Veil ein Gesetz durch, das den freiwilligen Schwangerschaftsabbruch entkriminalisierte. Im Juni 2022 setzten mehrere konservative US-Bundesstaaten dem Recht auf Abtreibung ein Ende. Die Siege der Vergangenheit sind keineswegs selbstverständlich, sondern zerbrechlich. Gerechtigkeit und Säkularisierung waren die beiden am häufigsten verwendeten Wörter der Eltern dieser Frau, die fast jeden Kampf mitgemacht hat. Von unhygienischen französischen Gefängnissen bis zu algerischen Kerkern, von der AIDS-Pandemie bis zu Unterkünften für Drogenabhängige - Simone Veil wollte immer über ihre Aussagen und weniger über ihr Aussehen definiert werden. Die Leinwand eignet sich gut, um von einem solchen Schicksal zu erzählen, das für alle erlebbar ist und das alle kennen sollten.
Übersetzung aus dem Französischen durch Maria Engler
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Kommentare
Die Rückblenden und der Alterungsprozess haben mich plötzlich ihren Mann mit ihrem Schwiegervater verwechseln lassen ;-).
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