Rapito - Die Bologna Entführung Frankreich, Deutschland, Italien 2023 – 135min.

Filmkritik

Für eine Zwangskonvertierung aus der Familie gerissen

Filmkritik: Marine Guillain

Marco Bellocchios neuer Film »Rapito«, der im offiziellen Wettbewerb der letzten Filmfestspiele von Cannes lief, erzählt die wahre und doch unglaubliche Geschichte der Mortaras.

Bologna, 1852. Momolo und Mariana Mortara, beide jüdischen Glaubens, haben vor einigen Monaten ihr sechstes Kind bekommen. Als er sechs Monate alt ist, tauft eine ihrer Mitarbeiterinnen den kleinen Edgardo heimlich. Sechs Jahre später kommt ein Geistlicher und nimmt ihn aus seiner Familie, um ihn in Rom grosszuziehen. Denn das päpstliche Gesetz ist eindeutig: Er muss eine katholische Erziehung erhalten – so stehen Gebete und religiöse Erziehung auf dem Programm. Der Junge bemüht sich, brav und gehorsam zu sein, in der Hoffnung, seine Familie wiederzusehen. Die Eltern von Edgardo sind erschüttert und versuchen alles, um ihren Sohn zurückzuholen. Der Fall sorgt in den nationalen Zeitungen und sogar ausserhalb des Landes für Aufsehen, aber der Papst ist nicht bereit, eine Ausnahme zu machen. Die Eltern werden nur dann mit ihrer Forderung erfolgreich sein, wenn sie zum Christentum konvertieren.

Für diese unglaubliche Geschichte interessierte sich zunächst Steven Spielberg, bevor Marco Bellocchio (»Der Verräter«) sie sich schnappte. In Form eines historischen Dramas vermittelt der italienische Filmemacher brillant den Kampf der Familie Mortara gegen die Kirche, aber auch die Indoktrination des jungen Edgardo, der unter der Trennung von seiner Familie leidet, sich jedoch den neuen Regeln und seiner neuen Religion fügen muss. Während er im katholischen Glauben aufwächst, schwindet die Macht der Kirche. Unterstützt von der internationalen jüdischen Gemeinschaft und der öffentlichen Meinung im liberalen Italien, erhält der Kampf der Mortaras eine politische Dimension. Der Volksaufstand gegen die kirchliche Macht führt sogar zu einem Prozess der neuen weltlichen Behörden gegen den ehemaligen Inquisitor der Stadt, der die Entführung veranlasst hatte.

Das Publikum wird schnell in die packende Geschichte hineingezogen: Sie bewegt sich zwischen bitterem Humor und schockierenden oder erschütternden Szenen, die das Herz zerreissen. Religiöse Macht, Ungerechtigkeit und Missbrauch: Die sehr umfangreiche und kraftvolle Geschichte von »Rapito« wird von Marco Bellocchio mit perfekter Kunstfertigkeit inszeniert. Er folgt zwar einer im Wesentlichen klassischen Handlung, geht aber auf kunstvolle Weise mit den Bildern, dem Licht und der Musik um.

15.02.2024

4

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Kommentare

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thomasmarkus

vor 11 Monaten

Nach einer Nacht einen Stern mehr gegeben, siehe Ursprungskommentar!


thomasmarkus

vor 11 Monaten

(Für einmal nach dem Drüberschlafen einen Stern mehr gegeben,
und nach dem kirchenpolitischen Intro und Kritik
einen Anhang angefügt:)

Selig gesprochen wurde Pio nono erst 2000:
Beim Heiligsprechnungsprozess kam heraus,
wie unmöglich der Papst in menschlicher Hinsicht oft war.
Der im Film gezeigte Fusskuss der jüdischen Vertreter
geriet in anderen Fällen zur Machtdemonstration innerkirchlich:
Ihm nicht genehmen Bischöfen stellte der Papst beim Fusskuss
seinen andern Fuss aufs Haupt des Würdenträgers (!).
Moralisch konnte ein Seligsprechungsprozess nicht verantwortet werden.
Allerdings war es ein Schweizer Geistlicher, der die Gunst der Stunde nutzte,
und bei einem andern (nicht über alle Zweifel erhabenen) Pontifex (JPII)
'immerhin' eine Seligsprechung durchsetzte.

Filmisch gut gemacht, mit wenigen traumhaften Szenen,
die wie eine spirituelle Deutung abgeben.

Spoileralarm (!):
Was will uns der jüdische Heiland sagen, wenn er der Nägel beraubt ist?
Wenn er die Kirche verlässt, und den Neo-Katholiken zurücklässt?
Ganz persönlich, biografisch: Hab mir einst geschworen,
bei einer allfälligen Heiligsprechung Pius IX Jesus seinem Auszug zu folgen...

Nachtrag: Einiges geht einem nach,
oder auch erst nach und nach auf.
Die
(Spoileralarm:)
Szenen, da sich der Junge unter Röcken versteckt,
und wie so gewissermassen erzählt wird, wie die Mutter
durch 'die Mutter Kirche' ersetzt wird.

Gut eingebunden in die Zeit,
in Gerichtsverhandlung leuchten Anklage und Verteidigung ein;
und es ist nicht einfach schwarz weiss: Der Klerus ist nicht einfach bös,
die guten sind nicht einfach gut.
Die Verblendung, die (paulinisch) den Juden vorgeworfen wird,
sie hat im Tiefsten die Katholiken befallen.Mehr anzeigen

Zuletzt geändert vor 11 Monaten


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