Anora USA 2024 – 139min.

Filmkritik

Umgekrempelte Stereotype

Michael Gasch
Filmkritik: Michael Gasch

Die Trennung in Gut und Böse schafft Struktur. Während viele Filme sich dieser klassischen Typisierung bedienen, gibt es genug Beispiele, die mit diesen Regeln brechen. Die Liste jener Filme erhält mit der Dramedy «Anora» einen neuen Beitrag.

Anora, auch bekannt als Ani (Mikey Madison), arbeitet als Tänzerin in einem Stripclub. Eines Tages trifft sie auf den jungen Ivan (Mark Eydelshteyn), den Sohn reicher russischer Oligarchen. Ihre Begegnung führt schnell zu mehr. Kurze Zeit später finden sie sich in Las Vegas wieder und heiraten, was Ivans Eltern alarmiert. Sie beauftragen daraufhin ihre Lakaien, um das Problem aus der Welt zu schaffen.

Die Geschichte mag sich sehr nach einem klassischen Verfolgungsthriller anhören, doch Sean Baker («The Florida Project») wählt für «Anora» andere Ansätze. Waffen kommen in diesem unterhaltsamen Film gar nicht vor; Wut, Gewalt und Destruktivität auch nur begrenzt. Stattdessen werden die Pole der Negativität umgekehrt. Dazu ein Beispiel: Nachdem einem Handlanger die Nase gebrochen wird, reagiert dieser nicht mit einem klassischen Wutausbruch, sondern vielmehr mit Verwunderung. Warum sollte man ihm so etwas Schlimmes antun?

Jener Humor, der sich fortan konstant wie ein roter Faden durch die Geschichte zieht, bringt frischen Wind in die Darstellung russischer Stereotype. Die Trennung in böse Handlanger und die guten Geliebten wird aufgelöst, es ergibt sich eine viel interessantere Figurenkonstellation. Fast schon pazifistisch entwickelt sich die Geschichte, was sich selbst beim Auftritt des Oligarchen-Ehepaars fortsetzt.

Die Anti-Stereotypisierung wird aber auch auf Mann und Frau übertragen. «Anora» zeichnet auch in dieser Hinsicht neuartige Figurenprofile. «Warum sollte ich dich vergewaltigen?» fragt ein Handlanger beispielsweise an einer Stelle, er wirkt schon fast wie ein unschuldiger Junge, der keiner Fliege etwas zuleide tun könnte. Mit solch cleveren und unerwarteten Momenten, die alle paar Minuten für Gelächter sorgen, stellt sich «Anora» als einer der besten Filme auf den diesjährigen Filmfestspielen in Cannes heraus.

12.09.2024

4

Dein Film-Rating

Kommentare

Sie müssen sich zuerst einloggen um Kommentare zu verfassen.

Login & Registrierung

Beatricebuchser

vor 8 Tagen

Wieso dieser Film einen Preis bekommen hat ist mir schleierhaft.
So schlecht. Auch wir haben vorzeitig das Kino verlassen. Wohl eher ein Film für Männer. Scheint mir eine Männerphantasie zu sein...


deven

vor 21 Tagen

Von der Jury hochgelobt, naja nicht nachvollziehbar, viel Leerlauf und keine gute Story, wir haben den Kinosaal frühzeitig verlassen. Und das war übrigens das erste mal.


thomasmarkus

vor 21 Tagen

Manchmal gehe ich (nur) wegen einer (guten) Besprechung ins Kino, so auch hier.
Nachteil: SRF2Kultur verwies auf den guten zweiten Teil des Films (stimmt),
und betonte (Achtung: Spoiler:) die zaghafte Annäherung einer der Lakaien an die Hauptdarstellerin:
So hielt der/die ZuschauerIn leider von Anfang a Ausschau nach dem, der gemeint sein könnte.
Nicht aber die SeniorInnen-Gruppe bei meinem Kinobesuch -
sie verliess nach der Pause geschlossen das Kino.Mehr anzeigen


Mehr Filmkritiken

Typisch Emil

Hölde - Die stillen Helden vom Säntis

Tschugger - Der lätscht Fall

Sauvages - Tumult im Urwald