Il cassetto segreto Italien, Schweiz 2024 – 132min.
Filmkritik
Das Leben umarmen
Abschied nehmen und zurückblicken auf ein Leben voller Abenteuer und Lebenslust: Die italienische Filmemacherin Costanza Quatriglio zeichnet ein liebevolles und zutiefst berührendes Porträt ihres Vaters und nimmt das Publikum mit auf eine Reise in die Vergangenheit und die Zukunft.
Die Dokumentarfilmerin Costanza Quatriglio kommt mit ihrer Kamera dem Leben ihres Vaters, des erfolgreichen Journalisten und Autoren Giuseppe Quatriglio näher – auch nach seinem Tod. Denn ihr belesener und weltreisender Vater hat sein ganzes Leben lang ein Archiv aus Briefen, Zeitungsartikeln, Tonaufnahmen, Fotos und Filmaufnahmen angelegt, das sich nun in mehreren Räumen seines Büros stapelt. Beim Aufräumen und Ordnen erfährt sie mehr über ihn als je zuvor.
Es ist schier unglaublich, welche Mengen allein an Büchern sich in den Büroräumen von Giuseppe Quatriglio stapeln, hinzu kommen bergeweise Fotos, Briefe und andere technische Speichergeräte aus dem über 90-jährigen Leben des Journalisten. Was auf den ersten Blick wirkt wie ein unendliches Chaos, erwacht in Costanza Quatriglios Film «Il cassetto segreto» zu neuem Leben.
Nach und nach entblättert sie die tausenden Aufzeichnungen über das Leben und Schaffen ihres Vaters und zeichnet ein faszinierendes und berührendes Bild eines Mannes voller Lebenshunger und Neugier auf die Welt. Mitte der 1940er-Jahre begann er seine Karriere als Journalist und Auslandskorrespondent, reiste durch die ganze Welt und traf Menschen, die die Geschichte lenkten. Durch die Fotos und Texte, die in «Il cassetto segreto» unterhaltsam und mit grossem Fingerspitzengefühl arrangiert werden, wird die Vergangenheit greifbar. Durch die Augen eines Zeitzeugen, der jede seiner Reisen und Erlebnisse sorgfältig dokumentierte, wird die Geschichte erlebbar, spürbar und zieht unweigerlich in ihren Bann. Dabei tauchen nicht nur Berühmtheiten wie Churchill oder Adenauer auf, sondern auch Geschichten aus dem Leben ganz gewöhnlicher Menschen – wie zum Beispiel die Liebesbriefe eines jungen Mannes aus einer Erdbebenregion.
Gleichberechtigt und hochemotional stehen Aufnahmen aus der jüngeren Vergangenheit und filmischen Gegenwart neben diesen Szenen. Costanza Quatriglio filmt ihren Vater auch als alten Mann, der in seinen gewaltigen Archiv-Bergen zu versinken scheint. Nach seinem Tod liegt der Schreibtisch brach, die Filmemacherin nimmt das Publikum mit auf einen schmerzhaften Prozess des Loslassens, des Aufräumens und Abschiednehmens. Bald finden sich Archivar:innen, Bibliothekar:innen und Helfer:innen ein, katalogisieren und verpacken nicht nur Gegenstände, sondern ein ganzes Leben. Was bleibt, sind leere Räume, Platz zum Neuerfinden, Erinnern, Tanzen – und mit «Il cassetto segreto» ein wunderschönes filmisches Denkmal eines langen Lebens.
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