Filmkritik
Im Zustand der Schwebe
Alle paar tausend Kilometer Filmmaterial ist ein Titel ungewöhnlich genug, um selbst das Gros der passionierten Englischsprecher zum Wörterbuch zu zwingen. Limbo ist so ein Fall: Ein Tanzfilm, das nehme ich gleich vorweg, ist es nicht; vielmehr ist die Bedeutung gemeint, die der Untertitel des Films freundlicherweise mitschickt: "a condition of unknowable outcome"; oder so klar wie deutsch: Ein Schwebezustand.
Der Regisseur John Sayles ist ein Filmemacher im engsten Sinn, der seine Werke selbst schreibt, inszeniert, schneidet und manchmal auch eine Rolle übernimmt. Wie in Sayles' Film City of Hope (1990) schwebt die Kamera in Limbo durch den ersten Teil der Geschichte und erfasst hie und da eine Konversation, einen Blick oder eine Bewegung, ohne uns wissen zu lassen, um wen oder was es ihr wirklich geht. Einige dieser Fäden werden mit der Zeit zu einer Handlung gesponnen, andere nicht. Statt einer Handlung zu folgen, betreten wir zuerst eine Welt. Wie in der Realität kann der Ablauf der Ereignisse erst im Nachhinein in einer klaren Linie erfasst werden, die wir dann als Handlung bezeichnen.
Schauplatz der Geschichte ist Alaska, "die äusserste Grenze Amerikas", und handelt von Joe (David Strathairn) und Donna (Mary Elizabeth Mastrantonio). Er war Fischer, musste den Beruf aber nach einer traumatischen Erfahrung (wie sie Filmfiguren immer zur Hand haben) an den Nagel hängen; nun arbeitet er in der Papierfabrik, jedenfalls tat er das, bevor sie geschlossen wurde. Sie ist eine Sängerin, die nach Jahren der Anstrengung in einer niederen Kneipe in Alaskas Hauptstadt Juneau auftritt. Es ist eine der ersten Sprossen auf ihrer Karriereleiter, vermutlich knapp über einer Anstellung bei einer Striptease-Bar. Das Leben der beiden geht weder hinauf noch hinab, lediglich vorwärts, und auf diesem Kurs treffen sie sich zufällig.
Limbo ist allein deswegen ein interessanter Film (wenn auch nicht Sayles' bester), weil er die bekannten erzählerischen Konventionen mit Geschick umgeht und immer wieder unerwartete Wendungen einbaut. Wir glauben uns zuerst in einer romantischen Komödie, wenn wir erfahren, dass sich die beiden Hauptfiguren in nichts ähneln und doch voneinander angezogen fühlen; dann korrigieren wir unsere Erwartung, als wir sehen, dass Donnas Tochter ihre Arme mit Rasierklingen aufschneidet und Gedichte über sterbende Fische schreibt, die an der Luft verzweifelt nach Sauerstoff schnappen.
Doch wie wir nach ungefähr einer Stunde in einer völlig unerwarteten Wendung feststellen, will uns Sayles eigentlich gar nicht von dieser Beziehung erzählen, ebenso wenig von der Tochter; und plötzlich scheint die Frage nach Genre oder Stil gar nicht mehr anwendbar - am ehesten lässt sich Limbo bezeichnen als filmisches Essay.
John Sayles als Autor/Regisseur wirkt hier nicht nur als Erzähler, sondern auch als Philosoph, der den Zuschauer anregen möchte, tiefer in der Geschichte zu graben und neben den unmittelbaren Ereignissen auch eine übertragene Bedeutung zu finden. Limbo ist kein einfacher Film, jedoch ein Segen für die philosophisch geneigten, für die der halbe Spass in der Diskussion nach dem Film liegt. Für sie ist dieser Film eine endlose Fundgrube, denn die Gedankengänge bringen einen meistens auf langen Wegen wieder dorthin, wo einen der Film schon zurückliess: in die Schwebe.
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