Filmkritik
Geschichten, die das Leben schrieb
Nutten und Nonnen, Penner und Papst, ihre Wege kreuzen sich in der Grossstadt Berlin. Eine Collage aus kleinen alltäglichen Szenen setzt Regisseur Andreas Dresen zum Spielfilm zusammen. Die Perspektive gilt nicht den Gewinnern der Gesellschaft, sondern den kleinen Nummern. Ihre Schicksale sind so ergreifend oder unspektakulär, wie Alltagsgeschichten nun mal sind.
Nacht liegt über Berlin. Der Papst kommt nach Berlin und mit ihm Nonnen in Scharen. Für viele Berliner ein Ereignis ohne Bedeutung. Die Obdachlose Hanna sitzt am Strassenrand und hofft auf Almosen. Der Bauernsohn Jochen steigt am Bahnhof Zoo aus dem Zug. Der Angestellte Peschke erwartet am Flughafen Tegel eine Geschäftspartnerin seines Chefs. Drei Menschen, die nichts miteinander zu tun haben. Trotzdem werden sich ihre Wege in dieser Nacht mehrmals kreuzen, ohne dass sie es merken. Sie treffen gemeinsame Bekannte, ohne es zu wissen. Es ist das Phänomen einer Grossstadt, dass man immer wieder den gleichen Leuten begegnet.
Hanna (Meriam Abbas) findet plötzlich einen 100-Mark-Schein in ihrer Betteldose. Woher dieser gekommen ist, weiss sie nicht. Zweifellos ist er ein Geschenk des Schicksals. Mit ihrem Freund Viktor (Dominique Horwitz) will sie sich einen schönen Abend machen: Essen, Hotel, Badewanne. Doch ein Geldschein allein befreit noch nicht vom Stigma des Obdachlosen. Der Taxifahrer will Vorauskasse, der U-Bahnkontrolleur glaubt nicht an den verlorenen Personalausweis, der Polizist belustigt sich an der Hilflosigkeit Hannas. Eigentlich will sie nur respektiert werden, doch mit ihrer Widerspenstigkeit eckt sie überall an.
Der gestresste Peschke (Michael Gwisdek) muss für seinen Chef eine Japanerin am Flughafen abholen, stattdessen trifft er den Angolanerjungen Feliz (Ricardo Valentim). Trotz seiner rassistischen Sprüche hat er Mitleid mit dem "Negerbengel" und nimmt ihn mit auf eine nächtliche Odyssee durch Berlin. Die Suche nach dem Freund, der Feliz abholen sollte, gestaltet sich aber schwieriger als erwartet.
Landei Jochen (Oliver Bässler) sucht das Abenteuer in der grossen Stadt und freundet sich auf dem Drogenstrich mit der achtzehnjährigen Prostituierten Patty (Susanne Bormann) an. Statt einer romantischen "Pretty Woman"-Geschichte gibt es für Jochen eine Tour zu sterilen Stundenhotels, besetzten Häusern, Drogenhändlern und gewalttätigen Zuhältern. Als Andenken trägt er eine dicke Beule und eine ausgeräumte Brieftasche nach Hause.
Quer dazu laufen die Geschichten des Rudels kleiner Punker, die erst Jochens Reisetasche und dann Peschkes Auto klauen, des Penners Zombie, der allen früher oder später über den Weg trottet und des Taxifahrers, der die illustren Fahrgäste durch die Nacht kutschiert. Der Papst spricht am Fernsehen, und keiner hört zu.
Die lose verknüpften Geschichten liefern ein Stimmungsbild anstelle einer durchgängigen Handlung. Regisseur Andreas Dresen geht es um eine neue Ehrlichkeit im Film. Er bewundert den englischen Social Realism und die Dogma-Filme für ihre Direktheit. Dresens Berlin ist eine farblose, düstere Welt, in der die kleinen Existenzen um ihr Überleben kämpfen. Mit einer speziellen Aufnahme- und Entwicklungstechnik wurde möglichst viel Farbe aus dem Filmmaterial gesaugt und ein harter Kontrast erzeugt. Dresen will nichts beschönigen, aber auch Humor und Menschlichkeit in einem harten Leben nicht sterben lassen. Die kleinen Geschichten enden mit kleinen Happy-Ends, und das Leben geht weiter.
Nachtgestalten gewann den ersten Preis am Film Kunst Fest Schwerin 1999 und wurde für den Deutschen Filmpreis 1999 in fünf Kategorien nominiert. Michael Gwisdek holte an den Filmfestspielen Berlin 1999 den Silbernen Bären als bester Darsteller ab. Trotz aller Auszeichnungen ist Dresens Film aber kaum für ein Massenpublikum geeignet, er hat keine poetischen oder pathetischen Ansprüche. Die Welt wird nicht bewegt, sondern so gezeigt, wie sie ist.
Sie müssen sich zuerst einloggen um Kommentare zu verfassen.
Login & Registrierung