CH.FILM

La brûlure du vent Schweiz 2002 – 118min.

Filmkritik

Magische Liebeskräfte

Filmkritik: Andrea Bleuler

Nach seiner Erfolgskomödie "Pane e Tulipani" erkundet Silvio Soldini neue erzählerische Territorien. Mit der Adaption von Agota Christofs Roman "Hier", einem poetisches Drama über die Existenz eines Entwurzelten, versucht er sich erstmals an einer schon bestehenden Vorlage.

Tobias Horvath (Ivan Franek) lebt in der Schweiz und arbeitet seit vielen Jahren in derselben Fabrik - geboren aber ist er in einem jener armen Länder, die niemanden interessieren. Seine Tage und Wochen gleichen sich. Morgens fährt er mit dem Bus zur Arbeit, abends wieder zurück. Meist ist das Wetter unfreundlich. Die Menschen sprechen kaum miteinander. Doch irgendwann bricht Tobias aus dem Alltagstrott aus, rennt davon und landet postwendend in der Psychiatrie.

Was er dem Psychiater nicht erzählen will, teilt er dem Publikum via Tonspur mit, während die Kamera den Alltag mit seiner einheimischen Freundin und Immigranten-Kollegen einfängt. Durch Rückblenden wird parallel dazu seine Lebensgeschichte aufgerollt: eine traurige Kindheit in grosser Armut, die Mutter Prostituierte und Diebin, der Vater der lokale Dorflehrer. Gleichzeitig erzählt er von seiner fiktiven Traumfrau, deren Namen er schon kennt und die er eines Tages zu finden hofft. Es entsteht ein vielschichtiges Bild innerer Zerrissenheit zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunftswünschen. Ein Zustand, der nur durch Liebeskräfte oder durch das Schreiben - Tobias möchte Schriftsteller werden - besänftigt werden kann. Und tatsächlich trifft er eines Tages seine grosse Liebe, eine ehemalige Schulkameradin und gleichzeitig auch seine Stiefschwester.

Die aus Ungarn emigrierte Autorin Agota Kristof hat ihren Platz in der zeitgenössischen französischen Literatur gefunden, weil sie sich nicht gescheut hat, als Nicht-Muttersprachlerin ihre eigenen Bilder sprachlich auszudrücken - und das in einer Sprache, wo kaum Abweichungen von der staatlich kontrollierten Norm erlaubt sind. Soldini gibt den Blick des Fremden und den einfachen, aber direkten sprachlichen Ausdruck in der Off-Stimme wieder. Unterstützt wird die beinahe prophetische Stimmung durch ein zeitloses musikalisches Thema, das in unterschiedlicher Instrumentation wiederkehrt.

Im Vergleich zu "Pane e Tulipani" ist Silvio Soldinis neuestes Werk auch ein übernationaler Film, denn es wird die Geschichte aller Entwurzelten erzählt. Der charismatische Hauptsteller Ivan Franek wie auch seine weibliche Filmpartnerin Barbara Lukesovà, beide aus Prag stammend, werden ihren komplexen Rollen vollumfänglich gerecht. Der Film verlangt vom Zuschauer aber auch die Bereitschaft, sich auf einen eher dichterisch-lückenhaften Erzählstil einzulassen.

08.05.2002

4

Dein Film-Rating

Kommentare

Sie müssen sich zuerst einloggen um Kommentare zu verfassen.

Login & Registrierung

Mehr Filmkritiken

Gladiator II

Red One - Alarmstufe Weihnachten

Venom: The Last Dance

Typisch Emil