CH.FILM

On dirait le sud Schweiz 2003 – 65min.

Filmkritik

Zwei Väter sind einer zu viel

Filmkritik: Daniel Däuber

Der Genfer Regisseur Vincent Pluss lässt in seinem Dogma-orientierten "Familienfilm" einen geschiedenen jungen Mann zu Frau und Kindern zurückkehren und seine Rolle als Ehemann und Vater einfordern. Eine mobile Digitalvideo-Kamera, mit den Schauspielern erarbeitete Dialoge und eine auf 60 Minuten konzentrierte Geschichte kombinieren sich zu einem frischen Sommerfilm mit Diskussionspotential, der in Solothurn den Schweizer Filmpreis 2003 gewann.

Nacht, zwei junge Männer, Jean-Louis (Jean-Louis Johannides) und François (François Nadin), sind in einem Kleinbus in die Ferien unterwegs. An der Raststätte gibts einen schnellen Kaffee, während der Fahrt vertreibt man sich die Zeit mit Zukunftsplänen. Am nächsten Morgen, François döst noch im Auto, hält Jean-Louis in einem Städtchen an, zieht ein frisches Hemd über und klingelt an einer Tür. Er überrascht zwei Kinder und eine junge Frau - seine Familie, von welcher der geschiedene Vater getrennt lebt. Als sein Kumpel François zu dieser "Familienzusammenkunft" stösst, dämmert ihm, dass Jean-Louis gar nicht mit ihm ans Meer fahren will wie abgemacht. All die Schachteln im Bus sind dessen Hab und Gut - er hat sich in den Kopf gesetzt, zu Frau und Kindern zurückzukehren.

So skizziert Vincent Pluss die Ausgangslage seiner Geschichte, die das Publikum in 63 Minuten an der ereignisreichen Wiedervereinigung einer jungen Familie teilhaben lässt. Dem Regisseur ging es dabei nicht um kunstvoll ausgeleuchtete Settings, nuancierte Dialoge und eine verschachtelte Story. Aus dem Leben gegriffen, spontan und realistisch sollte es sein. Die mit der Digitalvideokamera festgehaltenen Szenen und die improvisierten Dialoge unterstreichen die Authentizität, die Figuren tragen dieselben Vornamen wie die SchauspielerInnen. Das Ensemble vor der Kamera war überdies zu einem grossen Teil selbst dafür verantwortlich, wie die Geschichte umgesetzt wurde. Als Drehbuch existierten gerade mal vier Seiten mit der Handlungsskizze und Personencharakterisierungen. In wenigen Drehtagen wurde mit den vier Erwachsenen und zwei Kindern diese Familiengeschichte entwickelt. Dabei dürften gerade Gabriel (14) und Dune (6) als Gradmesser fungiert haben, ob eine Szene für sie umsetzbar, realistisch war.

Schon ganz zu Beginn, als Gabriel von seinem Vater an der Tür überrascht, Dune vom Fernseher weggeholt wird und die drei ihre Mutter Céline im Bett wecken, wirkt das äusserst realistisch. Auch wenn sich Jean-Louis mit seinem Kumpel bei der Familie einzuschmeicheln versucht sowie bei der folgenden Eskalation überzeugen Gabriel und Dune als zwischen den Elternteilen hin- und hergerissene Scheidungskinder.

Es bleibt nicht beim vergnügten Spielen und Backen von Crêpes. Fred, Célines neuer Freund, kommt von der Arbeit heim und nimmt die Besucher erst einmal freundlich auf. Als Jean-Louis jedoch auf Konfrontationskurs geht, die Kinder im Supermarkt gegen Fred auszuspielen versucht, kommt es zum Krach. Es ist es unausweichlich, sich auf einen neuen Modus des weiteren Zusammenlebens zu einigen.

Nach einem Filmstudium in New York war Regisseur Vincent Pluss als Cutter und Produktionsassistent tätig, hat fürs Fernsehen gearbeitet, Videoclips und Tanzfilme gedreht ("The Moebius Strip"). Sein Kurzfilm "Tout est bien" wurde mehrfach ausgezeichnet. 2000 initiierte er mit anderen die "Doegmeli"-Bewegung, die Schweizer Antwort auf die dänischen "Dogma"-Filme. "On dirait le sud" ist ein Kind dieses Engagements und überzeugt auch genau durch seine Beschränktheit der Mittel, mit einer authentischen Geschichte und ebensolchen DarstellerInnen. An den diesjährigen Solothurner Filmtagen hat die Schweizer Filmszene dem Genfer mit dem Filmpreis ihre Anerkennung für dieses Experiment gezollt.

29.11.2021

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