Die Träumer Frankreich, Italien, Grossbritannien 2003 – 115min.

Filmkritik

Erster Tango in Paris

Benedikt Eppenberger
Filmkritik: Benedikt Eppenberger

Nach seinen verschiedenen Ausflügen ins Epische ist Bernardo Bertolucci mit "The Dreamers" wieder zu seinen Anfängen zurückgekehrt. Im Mittelpunkt stehen: Paris, der Sommer von 1968, Politik, Liebe und Sex.

Mit "Der letzte Kaiser" überwand der italienische Cinéast Bernardo Bertolucci 1987 seine 68er Vergangenheit. Wie viele andere auch verabschiedete er sich von Kommunismus und Sex, transzendierte seinen Maoismus in einen Film über den letzten chinesischen Kaiser, um schliesslich 1993 mit "Little Buddha" vollends ins Nirvana abzuheben. Seine vorletzte globale Kinomeldung war dann 1996 "Stealing Beauty", wo der sichtlich mit seinem Alter kämpfende Bertolucci die blutjunge Liv Tyler in einer moribunden, englischen Künstler-Kolonie einen toscanischen Sommer verleben liess. Nach diesem Film beschlich einem das Gefühl, dass vom einstigen Provokateur nicht mehr viel zu erwarten sei.

Letztmals heftiges Aufsehen erregte Bertolucci 1972, als in seinem wohl berühmtesten Film Marlon Brando in einer leer stehenden Wohnung wortlos über Maria Schneider herfiel und ihr später befahl, ihm sein Arschloch mit Butter einzuschmieren, um ihm dortselbst zwei Finger einzuführen. Nicht dass solches vor "Der letzte Tango von Paris" nicht zu sehen gewesen wäre. Die Sex- und Pornoindustrie blühte schon 1972. Es war vielmehr die Radikalität, mit welcher Bertolucci seinem Publikum eine Beziehung zumutete, die sich ausschliesslich im Sexuellen erschöpfte und die in dem Moment tragisch endete, als menschliche Zuneigung ins Spiel kam.

Für seinen neusten Film ist Bertolucci nach Paris zurückgekehrt. "The Dreamers" ist zeitlich vor dem "letzten Tango" angesiedelt. Erzählt wird eine Episode aus der Zeit der Studentenunruhen im Sommer 1968, und wer will, kann in seinem neuen Spiel der nackten Leiber eine Vorgeschichte zum fatalen Zweier Brando/Schrader sehen. Es ist eine Geschichte aus jenen fernen Tagen, als freie Liebe, politische Bewusstseinsbildung und die Zertrümmerung künstlerischer Konventionen als zusammenhängender Befreiungsakt betrachtet wurden. Alles wurde in Frage gestellt, der Boden unter den Füssen wankte, Leben und Kino waren ein Traum.

Wie Bertolucci selbst sind auch die drei jugendlichen Protagonisten von "The Dreamers" Kinofreaks. Doch interessieren den US-Studenten Matthew (Michael Pitt) sowie das französische Geschwisterpaar Theo (Louis Garrel) und Isabelle (Eva Green) 1968 nicht etwa die Starpower von Brigitte Bardot, sondern die Politik der Cinémathèque Française, die, zur grossen Wut der Studierenden, den progressiven Leiter Henri Langlois aus dem Amt gejagt hatte. Es kommt zu gewalttätigen Demonstrationen, in deren Verlauf die drei jungen Kinofanatiker ein erstes Mal aufeinander treffen.

Nach anfänglich zögerlichem Abtasten entwickelt sich schnell eine vertrauensvolle Nähe. In der Gesellschaft von Theo und Isabelles liberalen Eltern erweist sich der Amerikaner als zwar scheuer, aber interessierter und liebenswerter Zeitgenosse. Es gibt daher kaum Widerstand gegen die Pläne der Geschwister, Matthew für die Zeit der Ferienabwesenheit von Vater und Mutter in der grossen, mondän-düsteren Pariser Familienwohnung einzuquartieren.

Während nun draussen auf den Strassen die Studenten die Staatsmacht herausfordern, beginnen die drei Studenten ein ähnliches Spiel, in dessen Verlauf Tabus gebrochen und Grenzen überschritten werden. Die Jugendlichen experimentieren mit der Freiheit. Verführt von ihren filmischen Vorbildern, streben sie nach dem Absoluten und lösen sich im exzessiven Sex- und Liebestaumel allmählich von der Realität. In diesen wenigen Pariser Tagen leben die drei Jugendlichen einen ihrer Filme. Gefühle werden leinwandgerecht und überlebensgross zelebriert. Man ahnt, dass sie den unvermeidlichen Absturz nicht unbeschadet überstehen werden.

Zwar steckt viel Wehmut in Bertoluccis ruhig und elegisch gehaltener Pariser Initiations-Geschichte. Trotzdem vermeidet er jenen anklagenden Ton anderer Alt-68er, die in den Vorlieben heutiger Popcorn-Kinogängern nur noch Niedergang und Zerfall erkennen können. Vielmehr unternimmt er den Versuch, einem jungen Publikum jenes Gefühl näherzubringen, welches herrschte, als Kinobilder noch so viel Verführungskraft besassen, dass die Polizei gegen entfesselte Filmfanatiker aufgeboten werden musste.

10.11.2020

4

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Kommentare

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8martin

vor 2 Jahren

Isabelle (Eva Green) und Theo (Louis Garrel) sind quasi siamesische Zwillinge, im Kopf zusammengewachsen. Sie freunden sich mit dem biederen Amerikaner Matthew (Michael Pitt) in Paris an. Es ist 1986, auf den Straßen finden Studentendemonstrationen statt. Die drei verbringen einige Tage in der elternfreien Wohnung miteinander. Hier findet das konkret statt, was die Straße fordert. Was zunächst noch als ein sadistisches Spielchen durchgehen könnte, entwickelt sich zur sexuellen Befreiung durch einen Tabubruch: öffentlich gemachte Sexualität: onanieren und deflorieren.
Der Zeitgeist der 68er wird exakt wiedergeben durch s/w Originalaufnahmen von “Außer Atem“, Musik von Clapton, Hendrix und Janis Joplin, Diskussionen über den Krieg in Vietnam oder Mao. So bleibt letztlich die damals oft gestellte Frage offen: Veränderung durch Liebe oder Gewalt...“
Ein echter Bertolucci eben, sehr freizügig, aber nicht pornographisch. Anschaulich überzeugende Hommage an das Kino. Zum Abspann singt die Piaf “ Non je ne regrette rien…“ Schmunzel, schmunzel…Mehr anzeigen


Barbarum

vor 6 Jahren

Weder gewitzt noch schockierend genug um einen mithineinzuziehen.


movie world filip

vor 13 Jahren

schon wieder schönes nackt in ein bertolucci film, aber der film ist lang nicht so gut wie zum beispiel Last tango in paris... aber eva green ist schön: -)


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