The Mother Grossbritannien 2003 – 111min.

Filmkritik

Das grosse Missverständnis

Filmkritik: Irene Genhart

"The Mother" erzählt von der späten Emanzipation einer frisch verwitweten Britin und ist gleichzeitig die verstörende Schilderung einer absolut disfunktionalen Familie.

Oldies are Goldies: Jüngst entdeckt das Kino wieder den Charme der Senioren. Die meisten dieser Oldies-Filme sind - "Saving Grace", "Waking Ned", "Calendar Girls" - Komödien, doch mit "The Mother" kommt ein ungleich ernsterer Film um eine Heldin reiferen Alters ins Kino. Gedreht wurde er von "Notting Hill"-Regisseur RogerMichell, das Drehbuch stammt aus der Feder des britischen Kultautors Hanif Kureishi. In Cannes uraufgeführt und da als "bester europäischer Film" ausgezeichnet, ist "The Mother" ein Werk erster Güte - mit erschütternd schalem Abgang.

Es beginnt genretypisch, mit dem Tod des Lebenspartners: Während die sechzigjährige May (Anne Reid) und ihr Gatte Toots (Peter Vaughan) ihren Kindern und Enkeln in London einen Besuch abstatten, segnet Toots unverhofft das Zeitliche. Die Kinder wollen ihre Mutter möglichst schnell los werden, doch May ist für ein Witwen-Dasein in der Provinz noch nicht bereit.

Sohn Bobby quartiert seine Mutter zwar bei sich ein, doch weder er noch seine Gattin noch die beiden Enkel haben für May Zeit oder gar Mitgefühl übrig. Auch Tochter Paula findet für Mama höchstens mal als Babysitter Verwendung und macht sie ansonsten verantwortlich für ihre Beziehungsunfähigkeit. Sie ist herb anzuschauen, die Schilderung dieser Familie, in der abgesehen von May keiner zu fühlen scheint, wie es dem anderen geht.

Doch es kommt noch schlimmer: Denn da, wo andere Filme wie "About Schmidt" oder "Saving Grace" ihre Protagonisten nicht nur, aber auch kraft positiven Erlebens ins Leben zurückführen, lassen Regisseur Michell undAutor Kureishi ihre Protagonistin in dramatischer Übersteigerung in den Hammer laufen. Auf der Suche nach Gesellschaft schicken sie May in die Arme eines Typen, der von Anfang als verkorkste Existenz geschildert wird. Zu allem Übel ist er sowohl einer der besten Freunde von Bobby als auch Paulas Lover. Dass May und der weit jüngere Darren (Daniel Craig) miteinander - auch körperlich - zu tun kriegen, ist nicht weiter entsetzlich. Aber dass May ihre Tochter vor diesem Tunichtgut warnt, selber aber nicht hellsichtig genug ist, sich von ihm fern zu halten, bleibt ziemlich unglaubwürdig. Dies umso mehr, weil Michell nicht Mays Sehnsucht nach Zärtlichkeit, sondern - völlig unglaubwürdig - sexuelle Begierden als Begründung angibt.

Sicher: Es gibt Familien, die nicht funktionieren, und zur Dramatisierung einer Story ist alles erlaubt. Doch in "The Mother" scheinen sich Regisseur und Autor in die seelische Befindlichkeit ihrer Protagonistin schlicht nicht einfühlen zu können, und was sie als Resultat solcher Unsensibilität erzählen, ist tiefschwarz. Man kann den Film trotzdem nicht als misslungen abtun: Anne Reid als May ist brillant, und Daniel Craig spielt ihren Lover überzeugend. Auch hat Roger Michell die einzelnen, bisweilen heiklen Szenen stimmig inszeniert. Doch als Ganzes wirkt die Geschichte, an deren Ende jede Figur seelisch noch verkümmerter scheint als zu Beginn, schlicht frustrierend.

10.11.2020

3.5

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