Filmkritik
Hoffnung in der Kälte
Ein Krankenbett mitsamt altem Bettlägrigen scheint von alleine durch eine Schneelandschaft zu rollen. Angekommen, entledigt sich der Alte seines Gebisses und beginnt, Flöte zu spielen. So absurd "Vodka Lemon" beginnt, so trist ist die Umgebung: Armenien scheint im ewigen Schnee zu erbleichen, und ein ganzes Dorf kämpft ums Überleben.
Im Zentrum steht der Witwer Hamo (Romik Avinian), ein Ex-Offizier der Roten Armee. Armenien ist seit 1991 unabhängig, doch nicht wenige trauern dem Sozialismus nach. Den Strom zu bezahlen ist für die meisten Dorfeinwohner ein Ding der Unmöglichkeit - arbeitslos verfallen sie der Lethargie oder dem Alkohol. Hamo, und mit ihm das ganze Dorf, wartet auf die Unterstützung seines Sohnes, der in Frankreich lebt. Er rattert schon mal auf einem klapprigen Töff in die Hauptstadt Jerewan, um einen prall gefüllten Brief abzuholen, doch statt der erhofften Dollarscheine flattern ihm bloss Fotos des Sohnes und seiner neuen Flamme entgegen.
Täglich pilgert Hamo ans Grab seiner Frau, der er beschwichtigend seine tristen Tage darlegt. Einige Reihen weiter kniet Nina (Lala Sarkissian) vor dem Grab ihres Mannes im Schnee. Nina kann sich nicht einmal das Busbillett leisten, obwohl ihre Tochter Trinkgeld nach Hause bringt, das sie durch Klavierspiel verdient haben soll. Nina selbst steht für Kleingeld eisige Stunden an einer offenen Bar, an der sie ein Getränk namens Vodka Lemon verkauft. Statt nach Zitrone schmeckt dies allerdings nach Mandeln. "Das ist eben Armenien", stellt ein Kunde lapidar fest.
Überhaupt nehmen die Dorfbewohner ihre Not mit einer erstaunlichen Gelassenheit an - wenn sie nicht zu ändern ist, muss man sich halt arrangieren. Selbst als Hamos Söhne, die seine einzige Altersvorsorge wären, von ihm Geld verlangen, verzweifelt er nicht. Immerhin ist da noch Nina, in der er nicht bloss eine Leidensgenossin gefunden hat, sondern auch eine neue Liebe.
Der kurdische Regisseur Hiner Saleem bricht die Darstellung existenzieller Sorgen immer wieder durch absurde Momente. Wenn Hamo seinen massiven Schrank durch die leere Schneelandschaft schleppt, widerspiegelt dies nicht bloss seine lebensbedrohende Armut - es schaut auch komisch aus. Durch dieses surreal anmutende Aufeinandertreffen von Tragik und Komik erhält "Vodka Lemon" eine Qualität, die an Emir Kusturica erinnert. Hamo besitzt am Schluss fast nichts mehr - den Schrank, den Fernseher, ja gar die Uniform hat er verkauft und sich dabei erst noch über den Tisch ziehen lassen. Und doch schimmert noch Hoffnung in seinem gegerbten Gesicht, und nachdem wir einen Film lang bloss weisse Hügel vor weissen Bergen gesehen haben, beginnt es zu tauen in Armenien: Der Frühling kommt.
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