Filmkritik
Tiefer Schlaf in Afrika
Nicht nur für die Männer Marokkos ist der Alltag hart, wenn sie in Europa nach einem besseren Leben suchen. Auch die in der kargen Wüste zurückgebliebenen Frauen haben es nicht leicht. Die frisch verheiratete Zeinab wartet schwanger auf ihren Mann und beschliesst, ihren Fötus nach einem jahrhundertealten Brauch einschlafen zu lassen und so die Geburt zu verzögern. "L'enfant endormi" erzählt vom Leben in einer verarmten Frauenwelt und vom Warten auf eine bessere Zukunft.
Im Maghreb, im Nordosten Marokkos, existiert der alte Glaube, dass eine Frau ihren Fötus im Bauch durch spezielle Rituale zum Einschlafen bringen kann. Damit verzögert sie die Geburt des Kindes um Monate. Dieser Mythos war Ausgangspunkt und Inspiration für die Regisseurin und Drehbuchautorin Yasmine Kassari, das Leben der in Marokko zurückgelassenen Frauen zu schildern.
Gezeigt wird dies durch die Figur der Zeinab (Mounia Osfour). Ihre Hochzeit in der kleinen Siedlung mitten in der trockenen Einöde verläuft noch fröhlich. Doch es liegt bereits eine melancholische Stimmung über dem Fest, denn alle wissen, dass demnächst die Männer das Dorf in Richtung Spanien verlassen werden. Dort hoffen sie, Geld für ihre zurückgelassenen Familien zu verdienen.
Kurz nach der Abreise ihres Mannes merkt Zeinab, dass sie schwanger ist. Mehr auf Druck der autoritären Mutter als aus eigenem Antrieb entschliesst sie sich, den Fötus einschlafen zu lassen. Erst wenn ihr Mann wieder zurück nach Hause kommt, sollen sie das Kind gemeinsam auf die Welt bringen. Doch das Warten ist hart in dieser kargen Frauenwelt, nur ab und zu bekommen sie auf Video einige spärliche Botschaften der Männer im Norden mit. Zeinab steht dabei immer tiefer im Konflikt zwischen der Mutter, die in der Siedlung das Sagen hat, und ihrer selbstbewussten Freundin Halima (Rachida Brakni), die sich gegen die starren Strukturen ihrer Welt auflehnt.
Die Filmemacherin Yasmine Kassari hatte bereits in ihrem letzten Film "Quand les hommes pleurent" das Schicksal der marokkanischen Männer im spanischen Arbeitsexil geschildert. Als Konsequenz daraus stellt sie nun die Frage, was denn derweil mit den zurückgelassen Frauen geschieht. Diese Frage beantwortet sie trotz einiger Längen auf bemerkenswerte Weise. Sie zeigt eindrucksvoll den Alltag der Frauen, die sich in einer Welt voller Armut, religiöser und traditioneller Riten sowie fester patriarchalischer Strukturen zurechtzufinden versuchen. Dabei ging sie das Risiko ein, die Geschichte mit Laiendarstellerinnen zu erzählen. Bis auf Rachida Brakni war noch keine der Akteurinnen und Akteure vor der Kamera gestanden. Dies fällt aber nicht negativ auf, sorgt Kassari damit schliesslich für besondere Authentizität.
L'enfant endormi gewann unter anderem 2004 in Venedig den CICAE-Preis als bester europäischen Film sowie den Jury- und Kritikerpreis in Fribourg 2005.
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