CH.FILM

Gerhard Meier - Das Wolkenschattenboot Schweiz 2007 – 80min.

Filmkritik

Ein aussergewöhnlicher Dichter

Flavia Giorgetta
Filmkritik: Flavia Giorgetta

Er habe die besten Texte beim Spazieren in den Wind geschrieben - dieser sei wohl dauerhafter als Zelluloid, sagt Gerhard Meier einmal in Friedrich Kappelers Porträt über diesen grossen Schweizer Schriftsteller, den nur so wenige kennen und der doch ein Gewichtiger ist in der universellen Literatur, die ihren Samen im Kleinen sät.

Das Kleine heisst bei Meier Amrein, und in diesem Dorf, dessen fiktiver Name das Kaff Niederbipp nie zu verbergen trachtet, spiegelt sich die Welt. In Meiers Tetralogie "Baur und Bindschädler" erinnern sich zwei Militärkumpane beim Spazieren in Schlaufen an Jahreszeiten, Kirschbäume und immer wieder an Verstorbene. Motive wiederholen sich in Variationen, Vergangenes vermischt sich mit dem Moment und dem Möglichen.

Schlaufen zieht auch Friedrich Kappeler, der mit "Gerhard Meier - Die Ballade vom Schreiben" bereits 1995 einen einfühlsamen Film über Meier gedreht hatte. Der Hauptteil von "Wolkenschattenboot" stammt aus Kappelers erster Dokumentation, doch der Schwerpunkt verschiebt sich.

Zehn Jahre sind vergangen, und inzwischen ist Meiers Frau Dorli gestorben. Ohne Anker in seinem Sein dachte Meier zu verstummen. Schliesslich aber schuf er sein Opus magnum: "Ob die Granatbäume blühen" verdient es, in die Annalen einzugehen als eines der poetischsten und ergreifendsten Liebeserklärungen überhaupt. In diesem dünnen Band erinnert Meier an seine Frau, die Teil von ihm war und stets ist, die ihm aber auch Konter bieten konnte - wie Kappelers Film schön zeigt. Die alten Aufnahmen zeigen eine Frau, die schlagfertig und schelmisch die Welt bestaunt, aber nie zu ernst nimmt. Die im Kiosk für einen minimalen Stundenlohn arbeitet, als ihr Mann aus der Lampenfabrik wegrationalisiert wird und sich endlich vollkommen auf die Schriftstellerei konzentriert. Die mit ihm an Tolstois Landsitz reist und Lauchsuppe kocht.

Die um 20 Minuten gekürzten ursprünglichen Aufnahmen hat Kappeler in einen Pro- und Epilog gebettet, in dem der fast 90-jährige Meier sich auf die Seite stellt und Orte sprechen lässt, die ihm und Dorli Heimat waren. Symbolisch für die Bedeutung der Literatur und ihrer Schöpfer - Meier nimmt in seinen Büchern mehrmals explizit Bezug auf andere Werke - ragt der Nietzschestein bei Sils ins Bild: "Doch alle Lust will Ewigkeit -, / - Will tiefe, tiefe Ewigkeit!", liest Meier die letzten zwei Zeilen des Gedichts vor. Und Dorli scheint immer noch neben ihm zu sitzen im Garten des Palazzo Salis in Soglio, wo er so viele Stunden mit ihr unter dem Mammutbaum verbracht hat.

Am Ende dieses rührenden, aber nie rührseligen Porträts sehen wir Meier in seinem Garten Blumen pflücken. Er lebt im selben Haus, in dem er 1917 geboren wurde und hat sich von hier aus die Welt erschrieben. Die Schweiz, sagt Peter Handke einmal treffend, wird durch Gerhard Meier ein grosses Land. Es bleibt zu wünschen, dass dank Kappelers Film viele neue Leser die Wortwunder dieses aussergewöhnlichen Dichters für sich entdecken.

18.02.2023

5

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Kommentare

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glarean

vor 17 Jahren

Ein selten stimmiger, leiser, einfühlsamer und ehrlicher Dokumentarfilm über einen grossen, stillen Dichter, der auf poetische Weise die Povinz zur Welt gestaltet.

Hinterlässt einen bleibenden Eindruck vom Porträtierten und vom Filmemacher.


avokado

vor 17 Jahren

Der Dichter Gerhard Meier wird auf eindrückliche Weise näher gebracht. Der Film wirkt unsentimental und geht auf das Werk gut ein. Schön sind auch die vielen landschaflichen Bezüge.


pradatsch

vor 17 Jahren

Einem, der "als Schreiber geboren" ist, so nahe zu kommen, ist eine besondere Leistung. Dass das gelingt, hat auch mit Gerhard Meiers Persönlichkeit zu tun, die sich im Film wunderbar entfalten kann. Nur einzelne Momente, etwa der Besuch an Tolstois Grab, rutschen in eine begrenzte Peinlichkeit.Mehr anzeigen


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